Sklaverei
besser behandelt werden, als Wunder zu sehen.
Sie erhalten eine Ausbildung. Sie ähneln dem Jungen, der von Geburt an täglich von seinem Vater geschlagen wurde und der die Psychologin nach seiner Befreiung fragte: »Und du, womit schlägst du?« Er war sich sicher, dass er auch in der Unterkunft jeden Moment geschlagen werden könnte. Als die Therapeutin antwortete, dass sie ihn niemals schlagen werde, war der Kleine verwirrt und verärgert. Für ihn war die Gewalt die einzige Möglichkeit, einen Kontakt herzustellen. Er musste erst andere Formen des Zusammenlebens lernen, und die Psychologen mussten ihm beibringen, Zärtlichkeiten zu verstehen und zu schätzen.
Schweigend gehe ich durch den Hof und beobachte von weitem, wie eine Lehrerin einer Gruppe auf dem Boden sitzender Mädchen eine Geschichte vorliest. Ich mache ein paar Fotos. Auf dieser Reise will ich unter anderem die Perspektive der Opfer und die individuellen Zeugnisse kennenlernen, die sie über ihre Erlebnisse ablegen. Ich habe nicht vor, ihre Geschichten aus der moralischen Sicht ihrer Betreuerinnen zu erzählen oder mit der geheuchelten Entrüstung der Behörden. Die Begegnung mit May bewegt mich, und ich frage mich, wie ich wohl im Alter von neun Jahren eine solche Tragödie erlebt hätte. Aber sofort erinnere ich mich: Diese Mädchen leben unter ganz besonderen Umständen. In ihrem Alter haben sie noch keine Vorstellung von Sexualmoral oder Erotik oder auch nur vom Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern. Sie wurden als kleine Kinder von ihren Müttern oder Vätern verkauft. Für das, was wir Mutterliebe nennen, haben sie weder Vorstellungen noch Worte. Deshalb können sie lachen, spielen und Spaß haben, während wir Erwachsenen aus unserer Sicht erschüttert von einer zerstörten Kindheit sprechen. Andere Mädchen lächeln nicht: Mädchen, die von Männern versklavt, misshandelt und bedroht oder zur Kinderpornographie gezwungen werden, lächeln selten. Das Phänomen hat viele Facetten, es gibt die unterschiedlichsten Formen und Grade des Missbrauchs, bis hin zu extremen Grausamkeiten, die ich im Jahr 2005 in meinem Buch
Los Demonios del Edén
(zu Deutsch etwa »Die Dämonen im Garten Eden«) über die Kinderpornographie in Mexiko dokumentiert habe.
Ich denke darüber nach, ob es eines Tages globalisierte Vorstellungen von Freiheit, Glück, Liebe, familiärer Fürsorge und Würde geben wird. Während ich den Garten betrachte, frage ich mich, ob sich die zunehmende gesellschaftliche und kulturelle Normalisierung des Kindesmissbrauchs, die in einigen Ländern zu beobachten ist, wieder rückgängig machen lässt, und zwar ohne den Rückgriff auf religiöse Dogmen einerseits oder einen philosophischen Diskurs der absoluten Freiheit andererseits. Letzteren bemühen all diejenigen, die meinen, die Normen und Gesetze der Sexualität seien überholt und müssten jenseits der Moralvorstellungen neu erfunden werden. Einer der Vertreter dieser Richtung ist Isaiah Berlin, der schrieb: »Freiheit ist Freiheit – sie ist weder Gleichheit noch Gerechtigkeit, noch Kultur, noch menschliches Glück, noch ein ruhiges Gewissen.« Ich atme die laue kambodschanische Luft und frage mich: Was bedeutet Freiheit für diese Mädchen, für diese Frauen?
Bevor ich mich wieder auf den Weg mache, erfahre ich noch etwas mehr über das Programm zur Wiedereingliederung und Erziehung der Mädchen und jungen Frauen. Wenn sie 16 Jahre alt sind, müssen sie die Unterkunft verlassen und mit anderen jungen Frauen zusammenleben. Die Rückkehr in ihr Dorf oder ins Elternhaus ist für die meisten keine Option. Die Verachtung der Familie bringt die Mädchen oft nur dazu, zu den Zuhältern zurückzugehen. Sie erhalten das Gefühl, dass sie einer unerwünschten Kaste angehören und dass sie wirtschaftlich nur überleben können, wenn sie ihren Körper verkaufen. Der große Triumph der Menschenhändler besteht darin, ihre Opfer zu Unberührbaren zu machen, die glauben, dass ihre Peiniger ihre einzigen Retter sind.
Einige, die Jüngsten, werden gelegentlich von ausländischen Familien adoptiert, die ihnen eine neue Chance geben wollen. Doch das ist keine einfache Aufgabe. Je nach ihren Erfahrungen benötigen die Mädchen bis zu zehn Jahre, um die posttraumatischen Belastungsstörungen zu überwinden. Wer sie adoptiert, muss sich bewusst sein, dass es eine Lebensaufgabe ist, das Verständnis zu ändern, das diese Mädchen von sich, von Frauen, von der Sexualität und von ihren
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