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Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
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zurück. Er musste ebenfalls, wie Norton jäh begriff, sehr müde sein. »Ja. Er wird es mir abnehmen.«
    »Und wenn nicht? Wenn er den Bluff durchschaut?«
    Wieder warf ihm Marsalis einen Blick zu, und Norton wusste, wie die Antwort lauten würde, bevor die ruhigen, nüchternen Worte in den stillen Raum fielen.
    »Das ist kein Bluff.«
     
    Sie warteten, bis der leuchtende Zähler auf Null herunter war und dann die Minuten wieder aufwärts zählte. Keiner von beiden sprach ein Wort. Norton zumindest wollte nichts einfallen, das er hätte sagen können. Aber das Fehlen von Worten hatte fast etwas Geselliges. Marsalis begegnete ein oder zwei Mal seinem Blick, und einmal nickte er, als ob der COLIN-Angestellte etwas gesagt hätte, und zwar so gewiss, dass Norton überlegte, ob er in seiner extremen Trauer und Erschöpfung nicht irgendeine zufällige innere Überlegung geäußert hatte.
    Falls ja, konnte er sich daran nicht erinnern.
    Die Stille im Raum legte sich um ihn wie eine Decke, die ihn wärmte und beruhigte, zur Flucht einlud, zum Verlassen des Schlamassels und der Trauer, zum Hineingleiten in das sanfte Vergessen des lang hinausgeschobenen Schlafs…
    Ruckartig wurde er wach.
    Das Klingeln des Empfängers, und sein Hals, er war steif und schmerzte.
    Der Bildschirm erwachte wieder zum Leben.
    Gutierrez tauchte auf, plappernd und voller Panik.

 
45
     
     
    Du bist sauber.
    Er fand einfach nicht heraus, was sie damit meinte, nicht so richtig. Er versuchte es. Zupfte an den fest verknoteten Verworrenheiten, während er in den abgedunkelten Büroräumen von COLIN inmitten einer Pfütze aus Lampenschein saß und das Transkript von Gutierrez zurückspulte, der mit überschnappender Stimme sprach. Kehrte wieder dahin zurück und zupfte noch etwas daran.
    Damit bleibst nur du, Carl. Du bist sauber.
    Er tastete an den rauen Konturen der Worte entlang, aber es war wie die Suche nach Haltepunkten an einer der unwahrscheinlich hohen Felswände im Verne-Massiv. Die Finger sagten dir, was dort vorhanden war, gaben dir etwas, woran du dich festhalten oder wovon du dich abstoßen konntest, aber das war die unmittelbare Anwendbarkeit, nicht die Gestalt des Ganzen. Es war kein Verständnis. Er kannte die kommenden Züge, was damit bleibst nur du, du bist sauber in dem Sinne zu bedeuten hatte, wie sie es von ihm wollte, aber weiter sagte es nichts darüber aus, was sie von ihm hielt, was sie in ihren Augen einander zu bedeuten hatten; nicht mehr als eine erfolgreiche Serie von Zügen damals auf diesem Verne-Felsen einem über die topografische Gestalt der Wand sagten.
    Es war, als befände er sich wieder auf dem Gelände von Osprey und zerbreche sich über einen von Tante Chitras eher obskureren Übungs-Koans den Kopf.
    Du bist sauber.
    Die Phrase tickte in seinem Kopf wie eine Zeitbombe.
     
    Norton ging, wahrscheinlich, um etwas zu schlafen, bevor er zusammenbrach. Außer bis Morgen! gab er keinen weiteren Kommentar ab. Sein Tonfall war zögernd, und wenn nicht freundlich, so doch nahe daran, abgemildert durch die Erschöpfung. Irgendwo während der vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte die Spannung zwischen ihnen sich auf eine undefinierbare Weise verändert, und etwas anderes tauchte auf, das an ihre Stelle trat.
    Carl saß in den leeren Büroräumen und hörte sich die Transkription immer und immer wieder an, wobei er vor sich hinstarrte, bis der Boden, auf dem er sich befand, sich selbst für die Nacht abschottete. Die Lichter oben erloschen eines nach dem anderen, und die Dunkelheit hinter den bodenlangen Fenstern strömte leise herein und erfüllte die Arbeitsplätze wie dunkles Wasser. Unbenutzte Systeme fielen in den Standby-Modus, Bildschirme zeigten das COLIN-Logo, und kleine rote Lämpchen schalteten sich im Dämmerschein an. Niemand kam herauf, um nachzusehen, was er tat. Wie die meisten COLIN-Zweigstellen waren auch die Büros in Oakland rund um die Uhr besetzt, aber in der Nacht wurde der Mitarbeiterstab aufs Allernotwendigste reduziert und ein intelligentes System im Untergeschoss eingeschaltet. Die Wache war dort unten – Norton musste ihnen gesagt haben, sie sollten ihn einfach in Ruhe lassen.
    Gutierrez beichtete, hastig und unzusammenhängend, untermauerte, korrigierte sich und log unterwegs wahrscheinlich und beschönigte. Dennoch formte sich ein Bild.
    … irgendjemand in den familias… musste früher oder später sein Missfallen kundtun… der Krieg ist einfach nur eine Dummheit…
    … ich weiß

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