Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
Amerika?“
„Natürlich, Paula.“
„Wiedersehen, Eva.“
„Wiedersehen, Paula“, rasch wandte sie sich ab, lief fast den abschüssigen Pfad in Richtung Haltestelle.
„Eva!“ Sie blieb stehen, drehte den Kopf und sah die kleine Gestalt vor den tristen Fassaden der Hochhäuser winken. Ihr roter Mantel schien der einzige Farbfleck in diesem ansonsten völlig grauen Bild zu sein. Sie hob die Hand und winkte zurück. Die Konturen verschwammen hinter einem Tränenschleier. Der Wind …
Liebe Frau Boskow …
Sie schrieb den Brief mit der Hand. Ein am PC erstelltes Dokument, womöglich noch mit dem Firmenbriefkopf, hätte Paulas Mutter nur verstört. Außerdem hätte sie sich als Almosenempfängerin gesehen und womöglich abgelehnt.
Es tut mir leid, wenn es so aussieht, als würde ich mich in Ihre Angelegenheiten mischen. Durch Ihre Tochter erfuhr ich von Ihrer misslichen Situation …
Das geht ja nun überhaupt nicht! „Missliche Situation“, so schreibt Eva nicht. So schreibt eine Geschäftsfrau, keine arbeitslose Erzieherin, die vorhat, nach Amerika zu ihrer Schwester zu ziehen, die sie aus Mitleid aufnimmt.
… Ihre Tochter hat mir von Ihrem Pech mit Ihrer Arbeitsstelle erzählt
. Schon besser.
Heute habe ich mit einer ehemaligen Kollegin telefoniert. Sie hat einen Bekannten, der ihr erzählt hat, das die Firma Hanka-Textil hier in der Stadt eine Näherin sucht. Die zahlen ziemlich gut und haben sogar einen eigenen Kinderhort. Da mir Paula erzählt hat, dass Sie gelernte Schneiderin sind, habe ich sofort an Sie gedacht. Rufen Sie am besten gleich einmal dort an. Ich drücke Ihnen die Daumen. Viel Glück
.
Nachdem sie noch Adresse und Telefonnummer darunter geschrieben hatte, verschloss sie den Brief und klebte eine Briefmarke darauf. Das Daumendrücken ersparte sie sich und auch Glück würde Petra Boskow nicht brauchen. Der Posten war ihr sicher. Hanka-Textil war nur noch dem Namen nach eine alteingesessene Industrienäherei. Das mittelständische Unternehmen war seit fünf Jahren Bestandteil der BarTex-International mit Sitz in London, die von einer äußerst publicityscheuen Milliardärin in Alleinherrschaft regiert wurde. Ein weiteres Teil im Tausend-Teile-Puzzle der Frau.
Die Personalabteilung wusste Bescheid. Das Vorstellungsgespräch von Petra Boskow sollte unmittelbar nach deren Anruf stattfinden. Das Gehalt entsprach dem einer Abteilungsleiterin, der Platz im Hort für ihre Tochter war kostenlos und eine Firmenwohnung in einer Siedlung im Grünen war „zufällig“ gerade frei geworden.
Die Frau fühlte sich nun bedeutend wohler. Paula und ihre Mutter sollten es gut haben. Sie erhob sich hinter dem riesigen gläsernen Schreibtisch, trat ans Fenster und schaute hinaus auf die flimmernden Lichter der Stadt.
Ihr inneres Auge erhob sich, stieg hinauf in den Abendhimmel, die Stadt wurde zu einem Lichterteppich, dann zu einem hellen Fleck. Der Horizont krümmte sich, die Erde wurde zu einer Kugel. Berge, Meere, Kontinente rollten unter ihr ab. Er war irgendwo da unten. Irgendwo auf diesem Planeten schlug ein Herz, das nicht schlagen durfte.
Sie würde ihn finden. Sie hatte die Zeit und das Geld und die Macht.
Dort draußen sollte jetzt jemand Angst haben …
Das Leben, das der Mann führte, war ein sehr ordentliches. Niemals geschah etwas Unerwartetes, niemals änderte sich etwas, niemals wurde die tägliche Routine gebrochen. Nur das Wetter machte, was es wollte. Wie immer. Doch Regen, Schnee, Sonne und Wolken spielten sich für den Mann in einem durch hohe Mauern gebildeten Geviert von wenigen hundert Quadratmetern ab. Seit drei Jahren schon.
Der Mann lebte in der Herzogenriedstraße 111. Zusammen mit 1085 Mithäftlingen bewohnte er den sternförmigen Backsteinkomplex der JVA Mannheim. Er hieß Gernot Marks und war 2006 zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Freiheitsberaubung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch einer Minderjährigen. Fünf Jahre und drei Monate …
Das blasse dunkelhaarige Mädchen, welches er wochenlang in seiner Gewalt hatte, bekam lebenslänglich. Ihr ganzes Leben lang würde sie an den Folgen des erlittenen Martyriums leiden. Außerstande zu vergessen, misstrauisch jedem männlichen Wesen gegenüber und geplagt von immer wiederkehrenden Albträumen. Vielleicht würde sie irgendwann einmal anfangen zu verdrängen. Das Grauen, die Schmerzen und die Scham zu einer winzigen schwarzen Kugel pressen und in einer geheimen
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