Skulduggery Pleasant 6 - Passage der Totenbeschwörer
ist er noch hier? In Haggard?«
»Soviel ich weiß, ja. Sie haben Dad angerufen -«
»Hör auf, ihn so zu nennen.«
»Sorry. Sie haben deinen Vater angerufen und ihm mitgeteilt, dass die Anklage auf tätlicher Angriff lautet. Sie halten ihn immer noch auf der Wache fest.«
Walküre stand reglos da, das Handy in der Hand. Ihr Körper war gefühllos.
»Bist du noch da?«, fragte das Spiegelbild. »Ich muss gehen. Dein Vater wartet.«
»Du hättest mich anrufen sollen.«
»Sie weisen dich darauf hin, dass du dein Handy im Krankenhaus abschalten sollst.«
»Du hättest mich in dem Moment anrufen sollen, in dem du von der Sache gehört hast.«
»Solche Anweisungen wurden mir nie gegeben.«
»Du hättest davon ausgehen sollen.«
»Ich bin nicht dazu da, von etwas auszugehen. Wie du selbst ständig sagst: Ich bin nicht echt. Ich habe keine eigenen Gedanken. Ich tue nur, was man mir sagt.«
»Dann tu, was man dir sagt! Von jetzt an sagst du mir immer sofort Bescheid, wenn meiner Familie irgendetwas zustößt.«
»Geht in Ordnung. Was wirst du jetzt tun?«
»Wie meinst du das?«
»Jetzt. Was wirst du jetzt tun?«
»Was glaubst du denn, dass ich tue?«
»Ich glaube, du bist sehr, sehr wütend. Ich glaube, du wirst in die Polizeiwache einbrechen und dem Mann etwas antun, der deiner Mutter etwas angetan hat.« Walküre erwiderte nichts darauf. Sie beendete das Gespräch und verließ das Haus.
Das Laufen fühlte sich seltsam an. Es war, als schwebte sie über ihrem Körper und beobachtete, wie er sich von selbst bewegte. Sie sah sich durch die schmalen Gassen von Haggard laufen. Die Hauptstraße und auch die größeren Nebenstraßen mied sie, um möglichst wenigen Menschen zu begegnen. Gelegentlich verschluckte die Dunkelheit sie, sodass sie nicht mehr zu sehen war. Eine geisterhafte Erscheinung in Schwarz mit Mordgedanken.
Die Polizeiwache war gut beleuchtet. Walküre kam von der Seite, sprang von der hohen Mauer hinunter auf den Parkplatz. Niemand da. Kaum Autos. So, dass die Überwachungskamera sie nicht erfassen konnte, lief sie zum nächsten Fenster. Plötzlich schwebte sie nicht mehr - sie wurde in ihren Körper zurückgezogen und spürte, wie kalt ihr war, wie die Wut eiskalt in ihrem Magen lag. Schattenfäden schlängelten sich zwischen Fenster und Rahmen hindurch. Sie drehte die Hand und die Fäden knackten das Schloss und das Fenster sprang auf. Mithilfe der Luft hievte sie sich auf das Fensterbrett und kletterte in eine helle Toilette, in der es nach Desinfektionsmittel roch.
Sie ging zur Tür und lauschte einen Moment lang. Irgendwo klingelten Telefone. Irgendwo wurde geredet.
Sie trat auf den Flur. Das Gebäude war nicht groß. Walküre ging davon aus, dass die Arrestzellen so weit wie möglich vom Haupteingang entfernt lagen, weshalb sie sich nach rechts wandte. Sie bog um die Ecke und schlüpfte rasch ins nächstbeste Zimmer, allem Anschein nach ein Vernehmungsraum, um einem entgegenkommenden Polizisten aus dem Weg zu gehen. Sie wartete, bis seine Schritte sich entfernt hatten, bevor sie wieder auf den Gang trat. Sie ging weiter und kam zu drei cremefarbenen Stahltüren mit Glaseinsätzen. Die ersten beiden Zellen waren leer. In der dritten lag ein Mann auf einem Bett.
Schatten krochen in das Schloss und sprengten es von innen. Walküre marschierte in die Zelle, noch bevor Moore auch nur den Kopf von dem dünnen Kissen gehoben hatte. Die Tür schloss sich hinter ihr.
Er war Anfang zwanzig. Sein Haar war schlecht geschnitten und er hatte ein tiefes Grübchen am Kinn. Ein Pflaster verdeckte eine kleine Schnittwunde an der Wange. Er stand auf, den Blick fragend auf sie gerichtet, und runzelte die Stirn. Sie streckte eine Hand in Richtung der Kamera ganz oben in der Ecke aus und schickte einen Schattenpfeil in die Linse. Moore wich zurück.
»Was war das? Was zum Teufel war das denn? Wer bist du?«
Sie trat auf ihn zu, die Hände an den Seiten, die Schultern ganz locker. Tief in ihrem Innern war sie kalt. In ihr steckte ein Eisblock. Die Stimme sprach zu ihr.
Bring ihn um.
Als sie nahe genug war, schwang sie die rechte Hand mit gespreizten Fingern nach oben. Im Schwung drehte sie die offene Handfläche zum Schlag. Sie traf ihn am Kiefergelenk und er krachte rückwärts gegen die Wand. Skulduggery nannte es einen Power-Schlag. So kraftvoll wie ein Boxhieb, doch ohne das Risiko gebrochener Knöchel. Eine der neuen Waffen in ihrem Arsenal, seit Tanith auf die schiefe Bahn geraten war. Walküre
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