Slant
verletzt, aber lebend. Eine der Geiseln, vermute ich.«
Der alte Mann versucht sich in eine würdevollere Position zu bringen. Er hebt das Kinn und blickt Mary mit herrischen grauen Augen an, aber er ist unübersehbar am Ende seiner Kräfte. »Marcus Reilly«, flüstert er heiser. »Bringen Sie mich hier raus.« Dann wandern seine Augen zu Torres und Daniels und nach einem tiefen Atemzug fügt er hinzu: »Sie sind von der Bundespolizei. Sie haben hier nichts zu suchen. Verschwinden Sie von hier!«
»Das nenne ich Dankbarkeit«, sagt Daniels. »Wir warten hier, bis jemand gekommen ist, der ihn im Auge behalten kann.«
Zwei Ärzte, die vom Boise Grace Hospital eingeflogen wurden, haben das Gebäude bereits betreten und stoßen wenige Minuten später zu ihnen.
»Jemand ist mit uns hereingekommen, aber dann ist er in eine andere Richtung weitergegangen«, sagt die jüngere Ärztin zu Mary, als sie Marcus’ Bein versorgen. Der alte Mann zuckt zusammen, als sie ihm etwas injiziert. »Er ist einer Spur aus toten Bienen gefolgt.«
Marcus starrt mit weit aufgerissenen Augen auf die große Spritze in den Händen der Frau.
»Was haben Sie mir verabreicht?«, fragt er mit sich überschlagender Stimme.
»Medizinische Monitoren. Stabilisatoren. Sie werden das Bein richten und die Wunde in wenigen Minuten versiegelt haben. Sie werden sich schon bald besser fühlen.«
»Nein!«, schreit Marcus und schlägt um sich. »Keine verdammten Krücken! Lassen Sie mich gehen… holen Sie sie wieder raus!«
Martin verzieht das Gesicht und atmet tief durch, sagt aber nichts zu den Ärzten. Er nimmt Mary beiseite. »Gehen wir. Wir sollten die anderen nicht aus den Augen verlieren. Ich weiß, wonach wir suchen müssen.«
»Was ist mit ihm?«, fragt Mary mit einem Seitenblick auf Marcus.
»Sie sollten sich größere Sorgen um Ihr eigenes Wohlergehen machen, wenn ich Ihnen einen Rat geben darf.«
Mary folgt ihm durch die Bibliothek. »Scheiße«, sagt sie, dann: »Bu mu. Fi ki kick.«
Martin dreht sich halb zu ihr herum.
»Es scheint loszugehen, nicht wahr?«, fragt Mary.
»Sieht so aus«, erwidert Martin. »Das Cipher-Snow-Syndrom.«
32 /
Jonathan hat sich noch nicht entschieden. Er sucht nach Giffey. Er könnte ihm dabei helfen, die Sprengladungen anzubringen. Das ist das Mindeste, was er tun könnte, um Rache für das zu üben, was seiner Frau, seiner Familie und ihm selbst angetan wurde. Dann überlegt er, ob er umkehren und Marcus aus Omphalos herausbringen sollte. Nichts ist eindeutig, nichts ist sicher. Zuerst die Benommenheit, dann die Klarheit, und nun kommt er sich wieder wie ein Kind vor. In den hell erleuchteten Korridoren im ersten Stock hat jede Form einen farbigen Saum. Die Gemälde wirken bezaubernd und traumhaft, doch gleichzeitig wundert sich der erwachsene Teil seiner Persönlichkeit über die monumentale Verschwendung und den Mangel an Planung. Als ob sie sich einen Erfolg gar nicht vorstellen konnten und diese Möglichkeit gar nicht in ihre Planung einbezogen haben. Zum Teufel mit dem Rest der Menschheit, doch darüber hinaus keine konsequente Konzeption…
In jüngster Zeit hat er viel Tod gesehen, was kleine Entladungsblitze in den Tiefen seiner Seele auslöst: Erinnerungen an die Sterblichkeit, die Verantwortlichkeit, an das, was ihm in dieser Welt, in diesem Leben am meisten bedeutet: seine Familie.
Giffey hat ihn als Ehemann und Familienvater bezeichnet. Genau das ist er.
Er sehnt sich danach, Penelope oder Hiram nur für einen kurzen Moment zu sehen, stellt sie sich in verschiedenen Phasen ihres jungen Lebens vor, als Babies in seinen Armen, der warme und süßliche Geruch ihrer flaumbedeckten Köpfe in seiner Nase, dann als Erwachsene, die ihre eigenen Kinder großziehen. Beständigkeit und Sterblichkeit und Unsterblichkeit miteinander vermengt.
Er kann sich Chloe nicht vorstellen, sieht kein Bild ihres Gesichts. Das verwirrt ihn nach so vielen Jahren der Ehe, aber die Frau, die er geheiratet hat, scheint verschwunden zu sein, um durch eine Mischung aus Problemen, Herausforderungen und Verlusten ersetzt zu werden. Für einen Moment möchte er sich in einen Eingang setzen (die Tür ist verschlossen) und einfach nur versuchen, sich an alles Angenehme im Zusammenhang mit dieser Frau zu erinnern, die schließlich seine Frau ist, mit allem, was dazugehört. Ist er seelisch vollständig, wenn er sich nicht mit einem gewissen Maß an Freude die Mutter von Hiram und Penelope vorstellen kann?
Er
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