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Slant

Slant

Titel: Slant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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dreht sich in der Nische vor der Tür und entdeckt einen kurzen, schmalen Wartungskorridor, der mit Röhren und Kästen ausgekleidet ist. Am Ende des Korridors befindet sich ein Lift, dessen Türen halb geöffnet sind. Jonathan glaubt nicht, dass es sich um einen der Notlifte handelt, denn er ist sehr klein und bietet höchstens Platz für zwei Personen.
    Ein Schild neben dem Lift besagt: KEIN WARTUNGSZUGANG. NUR FÜR AUTORISIERTE MITGLIEDER DES MANAGEMENTS. Er steckt seinen Arm zwischen die Türhälften und schiebt eine mit der Armbeuge zur Seite. Möglicherweise hatten sie sich verklemmt; nun geben beide Türhälften mit einem leichten Ruck nach und öffnen sich vollständig. Offenbar war nach dem Energieausfall ein derartiger Anstoß nötig, denn nun schließen sie sich wieder.
    Jonathan schlüpft hindurch, bevor sie sich ganz geschlossen haben. Von hier aus führt der Lift nicht nach oben, sondern nur nach unten, und es gibt nur einen Knopf. Er drückt ihn.
    Einen Moment lang herrscht Stille und Frieden im engen Raum. Er stellt sich vor, weit von allen Ereignissen entfernt zu sein, völlig isoliert und ohne Wahrnehmung in einer Umgebung, wo er alles unter Kontrolle hat. Der Lift rührt sich nicht von der Stelle. Jonathan ist es gleichgültig; Hauptsache, es ist still. Niemand kann ihn sehen oder irgendetwas von ihm verlangen.
    Dann löst Jonathan die Gleichung auf. Die Liftkabine dämpft jeden Schall und enthält nur wenig Luft. Hier ist es ruhig und eng wie in einem Sarg. Wie hundert Jahre in einer Kältebox auf die Wiederbelebung zu warten, wie tausend Jahre im kontunierlichen Wärmeschlaf zu verbringen, nachdem jeglicher Input wegen einer Fehlfunktion abgeschnitten wurde. Tausend Jahre der kostensparenden, schlecht geplanten Unsterblichkeit Marcus Reillys, versorgt durch die Schöpfungen einer Wahnsinnigen namens Seefa Schnee.
    Er streckt den Arm aus und berührt die Tür. Alle bislang zurückgedrängten Ängste brechen plötzlich hervor. Er sieht Ken Jenner, wie er vom MN-Sprühnebel getroffen wird, wie Hale im direkten Strahl steht und als Nahrung für eine noch Undefinierte Waffe aufgelöst wird. Und Giffey hat Unrecht, alle haben Unrecht; das MN macht keinen Unterschied zwischen Freund und Feind, jeder ist der Feind.
    »Bitte!«, schreit er und hämmert gegen die Tür. »Bitte!« Das ist alles, was er sagen kann. Dann ist seine Kehle zugeschnürt, und er stürzt zu Boden, um mehr Raum über dem Kopf zu haben, um in dieser Enge für Dekompression zu sorgen. Er ist überzeugt, dass Marcus dafür verantwortlich ist, als Strafe, weil Jonathan ihn im Eingang zur Bibliothek zurückgelassen hat.
    Wenn er aus dieser Zwangstherapie herauskommt, wird Marcus’ unbekannte Krankheit ihn in einen Ken Jenner verwandeln, der ungehemmt Obszönitäten stammelt. Plötzlich muss er trotz seines Entsetzens lachen, aber das Lachen geht bald in ein Schluchzen über.
    Das Licht erlischt. Das leise Rauschen der Lüftung erstirbt. In dem totalen Fehlen von Licht und frischer Luft – und Raum – spürt Jonathan, wie der Boden unter ihm nachgibt. Er kauert sich zusammen. Seine Lungen flattern schwach und verzweifelt wie die Flügel eines aufgespießten Schmetterlings.

 
33 /
     
    Giffey sieht die Frau hinter einer Biegung verschwinden. Er tritt aus einer Nische, die offenbar eine bessere Perspektive auf ein große Gemälde aus dem neunzehnten Jahrhundert ermöglichen soll – nicht gerade ein Meisterwerk (kann er es wirklich beurteilen?), aber durchaus beeindruckend mit dichtgedrängten Scharen fuchsbrauner und grauscheckiger Pferde und napoleonischer Soldaten.
    Die Frau ist Seefa Schnee. Das weiß er, aber er kann sich nicht mehr erinnern, warum er es weiß oder was es bedeutet. Doch er ist kein Idiot. Er kommt immer wieder zu eigenen Erkenntnissen, während seine zwei Persönlichkeiten, seine zwei Vergangenheiten ihren Streit ausfechten. Er kann sogar erklären, warum es zu einem neuen Ausbruch der Zuckungen und des Gestammels kommt.
    Jack Giffey existiert nicht wirklich. Er hat niemals wirklich existiert.
    Leise verfolgt er die Frau, versteckt sich hinter Ecken und springt aus der Deckung, während sie vom großen Garten zu einem unbekannten Ort unterwegs ist, vermutlich nach unten. Das ist Giffey recht, ob er nun wirklich ist oder nicht.
    Sowohl Giffey als auch der andere haben den größten Teil ihres Lebens als Soldat verbracht. Sowohl Giffey als auch der andere wurden zum Töten ausgebildet. Sowohl Giffey als auch der

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