SLEEP - Ich weiss, was du letzte Nacht getraeumt hast
Aufmerksamkeit zu erringen. Vielleicht kann sie ihr diesmal helfen, es zu ändern. »Sieh mich an«, denkt Janie und versucht, sich zu konzentrieren. »Sieh mich an!«
Aber Janies Sinne sind abgeschaltet, sie sind im Moment nicht stark genug, daher wirft ihr Dorothea lediglich einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder abwendet. Je länger sie warten muss, desto ungeduldiger wird sie. Schließlich wendet Janie den Blick von ihrer Mutter ab und sieht zum Anfang der Schlange am Gebäude. Dort befinden sich zwei Fenster, über denen ein riesiges Schild hängt.
Babys gegen Essen.
Genau das steht dort.
Janie beobachtet, wie die Leute ihre Babys an einem Fenster abgeben und aus dem anderen eine Schachtel mit Lebensmitteln entgegennehmen.
Mit aller Macht versucht Janie zu schreien, aber sie kann es nicht. Sie sammelt ihre Kräfte und kriecht blind zum Bett, stößt mit dem Kopf dagegen, hämmert mit den gefühllosen Armen auf die Matratze, nicht einmal sicher, ob sie ihre Mutter trifft, und versucht, sie zu wecken. Sie versucht, aus diesem Albtraum zu entkommen.
Und endlich wird alles schwarz.
Gleichzeitig schreien die beiden:
»Was ist los mit dir?«
Janie kann immer noch nicht sehen. Sie spürt, dass sie nass ist vom Bier aus der geplatzten Dose. Dorothea schubst sie weg.
»Was zum Teufel machst du da?«
Janie tut so, als ob sie sehen könnte. Schließlich sind ihre Augen geöffnet.
»Ich … ich bin gestolpert.«
»Verschwinde hier, du Nichtsnutz!«
»Hör auf!« Janie ist angetrunken, verwirrt und blind. Aber sie hat genug davon. »Hör auf, so mit mir zu reden! Lass diesen Nichtsnutz-Scheiß! Ohne mich würdest du auf der Straße landen, das weißt du ganz genau, also halt einfach deine verdammte Klappe!«
Ihre Mutter ist völlig verdutzt.
Janie ist erschrocken über ihre eigenen Worte.
Sie schweigen.
Als die Welt wieder in Janies Blickfeld rückt und sie sich wieder bewegen kann, steht sie unsicher auf und hebt die Dosen auf.
»Was für eine Schweinerei«, murmelt sie. »Ich bin gleich wieder da.«
Janie kommt mit ein paar Lappen zurück und beginnt aufzuwischen. »Weißt du, Mum, es würde dich nicht umbringen, mir zu helfen.«
Nach einer Minute rutscht ihre Mutter vom Bett herunter auf den Fußboden und hilft ihr tatsächlich.
»Hast du getrunken?«, grunzt sie.
»Na und? Was geht dich das an?« Janie ist immer noch wütend und etwas verunsichert durch den Albtraum. »Warum hasst du mich eigentlich so?«
Janies Mutter beugt sich zu einem nassen Fleck auf dem Fußboden vor und antwortet ein wenig sanfter: »Ich hasse dich nicht.«
Janie ist frustriert.
»Was ist los? Was ist das für eine Sache mit diesem Henry? Ich glaube, ich habe es verdient zu erfahren, was passiert ist.«
Dorothea sieht weg. Sie zuckt mit den Schultern. »Er ist dein Vater.«
»Ja, das hast du erwähnt. Muss ich dir jetzt ganz gezielte Fragen stellen oder erzählst du mir einfach etwas über ihn? Mein Gott!«
Dorothea runzelt die Stirn.
»Sein Name ist Henry Feingold. Wir haben uns in Chicago getroffen, als ich sechzehn war. Er studierte an der Universität von Michigan, fuhr aber in den Sommerferien nach Hause. Er hat in Lincolnwood in Lou Malnatis Pizzeria gearbeitet. Ich auch, als Bedienung.«
Janie versucht, sich vorzustellen, dass ihre Mutter tatsächlich arbeitet.
»Und dann? Hat er dich geschwängert und ist abgehauen? Ist er ein Arschloch? Wie bist du hier in Fieldridge gelandet?«
»Vergiss es. Ich werde nicht darüber reden.«
»Komm schon, Mum. Wo wohnt er?«
»Keine Ahnung. Irgendwo hier in der Gegend. Ich habe die Schule geschmissen und bin ihm hierher gefolgt. Wir haben eine Weile zusammengelebt und dann ist er abgehauen und ich habe ihn nie wiedergesehen. So. Zufrieden?«
»Wusste er, dass du schwanger warst?«
»Nein. Das ging ihn nichts an.«
»Aber … aber … woher wusstest du, dass er im Krankenhaus ist?«
Janies Mutter blickt ins Leere.
»Er hatte so eine rechtliche Erklärung bei sich … die hat er den Sanitätern gegeben. Darauf war ich als seine Kontaktperson angegeben. Da steht, dass er keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht. Das hat mir die Krankenschwester erzählt.«
Janie schweigt.
Leise fährt Dorothea fort. »Vielleicht sollte ich mir auch so eine Erklärung beschaffen. Damit du mich nicht am Leben erhalten musst, wenn meine Leber den Geist aufgibt.«
Janie sieht seufzend weg.
Sie hat das Gefühl, sie sollte protestieren.
Andererseits, wen will sie denn damit
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