SLEEP - Ich weiss, was du letzte Nacht getraeumt hast
Und dann sieht sie, dass auch der Mann da ist. Es ist natürlich Henry. Es ist sein Traum. Er ist im Schatten, sitzt auf einem Stuhl und beobachtet die Frau. Dann dreht er sich um, sieht zu Janie und blinzelt. Seine Augen weiten sich und er richtet sich gerade auf.
»Hilf mir!«, fleht er.
Dann, wie in einem kaputten Film, ist das Bild plötzlich weg und das Rauschen wieder da, lauter als zuvor, ein konstantes Kreischen in ihren Ohren. Janie kämpft, obwohl es in ihrem Kopf hämmert. Sie versucht, sich aus dem Traum herauszuziehen, aber sie kann sich nicht konzentrieren, das Rauschen stört sie dabei.
Sie wälzt sich auf dem Boden und strengt sich an, um zu flüchten.
Sie glaubt, dass Carl bei ihr ist und sie festhält, aber sie kann nichts spüren.
Die grellen Farben schlagen ihr in die Augen, ins Gehirn, in ihren Körper. Das Rauschen ist wie Nadelstiche in jeder Pore ihres Körpers.
Sie sitzt in der Falle.
Sie ist gefangen im Albtraum eines Mannes, der nicht aufwachen kann.
Wieder wehrt Janie sich, sie hat mittlerweile das Gefühl zu ertrinken. Das Gefühl, dass sie hier vielleicht stirbt, wenn sie sich nicht befreien kann. Carl! , schreit sie im Geiste. Hol mich hier raus!
Aber er kann sie natürlich nicht hören.
Sie nimmt all ihre Kraft zusammen und reißt sich los, stöhnt innerlich vor Anstrengung, sodass ihr ganzer Körper wehtut. Als der Albtraum wieder flackert und das Bild der Frau erscheint, kann sie sich mit knapper Not aus ihrem Gefängnis befreien.
Keuchend ringt sie nach Atem.
»Janie?«, fragt Carl leise und eindringlich.
Seine Finger streichen über ihre Stirn zur Wange. Er legt einen Arm um ihre Schultern, hebt sie hoch und trägt sie zum Stuhl.
»Ist alles in Ordnung?«
Janie kann nicht sprechen. Sie kann nichts sehen. Ihr Körper ist gefühllos. Sie kann nur nicken.
Und plötzlich erklingt ein Geräusch.
Und das kommt sicher nicht von Henry.
Janie hört, wie Carl einen unterdrückten Fluch ausstößt.
»Guten Morgen«, sagt eine Männerstimme. »Ich bin Dr. Ming.«
Janie setzt sich so gerade wie möglich hin und hofft, dass Carl sich vor sie stellt.
»Hi«, sagt er. »Wir … ich … wie geht es ihm heute? Wir sind gerade erst gekommen.«
Dr. Ming antwortet nicht gleich, sodass Janie der Schweiß ausbricht. Oh Gott, er starrt mich an .
»Ihr seid …?«
»Seine Kinder.«
»Und geht es der jungen Frau gut?«
»Ja, alles in Ordnung. Das hier ist wirklich …« Carl seufzt und seine Stimme klingt ein wenig gebrochen. »Nun … es ist schwer zu verkraften, wissen Sie?«
Janie weiß, dass er versucht, für sie Zeit zu gewinnen.
»Natürlich«, sagt der Arzt. »Also gut.«
Langsam kehrt Janies Sehvermögen zurück und sie erkennt, dass Dr. Ming sich das Krankenblatt ansieht. Dann fährt er fort. »Es kann jeden Tag so weit sein, es kann aber auch sein, dass er noch länger in diesem Zustand bleibt. Das ist schwer zu sagen.«
Janie räuspert sich und lehnt sich vorsichtig im Stuhl zur Seite, damit sie an Carls Hintern vorbeisehen kann.
»Ist er … hirntot?«
»Hm? Nein, es scheint noch ein paar geringe Hirnaktivitäten zu geben.«
»Was fehlt ihm überhaupt?«
»Das wissen wir nicht genau. Es könnte ein Tumor sein oder eine Reihe von Schlaganfällen. Und ohne chirurgischen Eingriff werden wir es wahrscheinlich nie erfahren. Aber in seiner Patientenverfügung hat er klargestellt, dass er keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht, und seine nächste Angehörige – eure Mutter, nehme ich an? – hat sich geweigert, einer Operation oder anderen Maßnahmen schriftlich zuzustimmen.«
Er klingt so mitleidig, dass Janie ihn dafür hasst.
»Und?«, fragt sie. »Hat er überhaupt eine Krankenversicherung?«
Der Arzt sieht noch einmal auf das Krankenblatt. »Offensichtlich nicht.«
»Wie stehen die Chancen, dass eine Operation ihm helfen könnte? Ich meine, könnte er dann wieder gesund werden?«
Dr. Ming sieht Henry an, als könne er seine Chancen durch bloßes Ansehen einschätzen. »Ich weiß es nicht. Vielleicht könnte er nie wieder allein zurechtkommen. Und das auch nur, wenn er die Operation überlebt.« Wieder sieht er das Blatt an.
Janie nickt langsam. Deshalb. Deshalb liegt er hier nur einfach herum. Deshalb und wegen der Patientenverfügung. Deswegen helfen sie ihm nicht – er ist zu kaputt. Sie versucht, nur neugierig zu klingen, aber sie kann nicht verhindern, dass sie sich nervös anhört: »Also … ähm … wie viel kostet es, dass er einfach hier
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