SLEEP - Ich weiss, was du letzte Nacht getraeumt hast
sie nie in diesem verdammten grünen Tagebuch gelesen hätte, wenn sie mit acht Jahren nie mit diesem Zug gefahren wäre, in dem das alles angefangen hatte. Wenn sie wenigstens ein Mal ihr Leben selbst bestimmen könnte.
Sie fragt sich, ob sie wirklich tun sollte, wovor sie schon die ganze Zeit Angst hat.
Sich selbst zu retten und auf den Rest zu pfeifen.
»Gönnt mir doch einmal eine verdammte Pause!«, schreit sie zum Feuerwerk hinauf, das schon lange nicht mehr am Himmel steht. »Was zum Teufel muss ich eigentlich tun, um einfach mal normal zu sein? Was habe ich getan, um diesen Mist zu verdienen? Warum?«, schluchzt sie. »Warum?«
Ebenfalls nicht zum ersten Mal … erhält sie keine Antwort.
17:35 Uhr
Janie steht auf.
Sie wischt sich den Schmutz von den Shorts.
Und joggt nach Hause.
18:06 Uhr
Durch die Hintertür schlüpft sie in Carls Haus. Erschöpft und leer.
Er macht sich in der Küche gerade ein Sandwich, sieht sie an und zwinkert.
»Hi«, sagt sie. Bleibt einfach stehen, mit dem sommerlichen Straßenstaub und Schweiß im tränenverschmierten Gesicht.
Carl rümpft die Nase. »Wow! Du stinkst ja grauenvoll. Komm mit!«
Er bringt sie ins Bad und stellt die Dusche an. Kniet vor ihr nieder, um ihr die Schuhe und Socken auszuziehen, während sie die Brille auf das Regal legt und ihren Pferdeschwanz löst. Er hilft ihr aus den verschwitzten Sachen und hält dann den Vorhang für sie beiseite.
»Bitte sehr«, sagt er und sie tritt ein.
Er sieht sie an und bewundert ihre Kurven. Nur zögernd wendet er sich ab.
Dann bleibt er stehen.
Vielleicht braucht Janie heute ja ganz besonders viel Fürsorge.
Also zieht er sich T-Shirt und Shorts aus und auch die Boxershorts. Und leistet ihr Gesellschaft.
18:42 Uhr
»He, Carl?«, fragt sie, als sie sich die Haare trocknet. Sie fühlt sich erfrischt. Grinsend schiebt sie für einen Moment alle Gedanken bis auf einen beiseite. »Willst du Jimmy einen Regenmantel holen und wir kümmern uns um dich?«
Carl sieht sie an.
Er dreht sich um und runzelt die Stirn.
»Wer zum Teufel ist Jimmy?«
23:21 Uhr
Im kühlen Dunkel des Kellers flüstert Janie: »Es ist nicht Ralph , oder?«
Carl schweigt einen Augenblick lang, als müsse er nachdenken. »Du meinst Ralph wie in Forever ? Äh, nein.«
»Du hast Forever gelesen?«, fragt Janie ungläubig.
»Auf dem Bibliothekswagen des Krankenhauses gab es nicht viel Auswahl und Deenie war immer ausgeliehen«, antwortet Carl ironisch.
»Hat es dir gefallen?«
Carl lacht leise. »Na ja, es war nicht gerade die weiseste Lektürewahl für einen Vierzehnjährigen mit frischen Hauttransplantationen in der Gegend da unten, wenn du weißt, was ich meine.«
Janie unterdrückt ein mitfühlendes Lächeln und schmiegt das Gesicht an sein T-Shirt. Sie hält ihn fest und spürt ihn atmen. Nach einer Weile fragt sie: »Wie heißt er dann? Pete? Clyde?«
Carl dreht sich um und stellt sich schlafend.
»Er heißt Fred, nicht wahr?«
»Janie! Hör auf!«
»Du hast dein Ding Janie genannt?«, kichert sie.
Carl stöhnt laut auf. »Schlaf endlich.«
23:41 Uhr
Sie schläft. Es ist wunderbar.
Zumindest eine Weile.
03:03 Uhr
Er träumt.
Sie sind bei Carl zu Hause, alle beide, sie sitzen zusammen auf dem Sofa, spielen Playstation und essen Pizza. Sie amüsieren sich. Im Hintergrund ist ein ersticktes Geräusch zu hören, aus der Küche ruft jemand um Hilfe, aber die beiden ignorieren es – sie sind viel zu sehr miteinander beschäftigt.
Die Hilferufe werden immer lauter.
»Ruhe!«, ruft Carl. Doch die Rufe werden immer dringender. Wieder schreit er, aber es ändert sich nichts. Schließlich geht er in die Küche. Janie ist gezwungen, ihm zu folgen.
»Lass mich endlich mit deinen dämlichen Problemen in Ruhe!«, schreit Carl. »Ich kann es einfach nicht mehr ertragen!«
Mitten in der Küche liegt eine Frau in einem weißen Krankenhausbett.
Sie ist verzerrt, verkrüppelt.
Blind und ausgemergelt.
Hässlich.
Es ist die alte Janie.
Die junge Janie vom Sofa ist verschwunden.
Carl wendet sich im Traum an Janie.
»Hilf mir«, fleht er.
Janie starrt ihn an. Sie schüttelt sacht den Kopf, obwohl sie gezwungen ist zu versuchen, ihm zu helfen. »Ich kann nicht.«
»Bitte Janie! Hilf mir!«
Sie sieht ihn an, sprachlos, zitternd. Sie muss die Tränen zurückhalten.
»Vielleicht solltest du dich einfach verabschieden«, flüstert sie.
Carl starrt sie an. Er wendet sich wieder der alten Janie zu.
Er streckt zwei Finger aus.
Und
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