SLEEP - Ich weiss, was du letzte Nacht getraeumt hast
Augenlicht erhalten will. Ein träumendes Kind würde sie zugrunde richten. Außerdem hat sie nicht die Absicht, diese Traumfängersache an irgendjemanden zu vererben.
Damit kann sie leben.
Aber was bedeutet das für Carl?
Zusammengefasst sähe seine Zukunft so aus:
Anderswo leben.
Ein paar Stunden am Tag in der Hütte verbringen.
Nie heiraten.
Nie Kinder haben.
Nie eine Nacht mit der Frau verbringen, die er liebt.
Sie malt sich ihre gemeinsame Zukunft aus, wie es wäre, Tag für Tag. Stagnierend. Carl kommt für seine obligatorischen zwei Stunden herüber, während er Uni, sein Zuhause und seinen Job meistern muss.
Janie weiß, dass es für ihn die Hölle sein würde.
Es wäre wie in den Besuchsstunden im Pflegeheim.
Sie würden irgendwann anfangen, sich über Kreuzworträtsel und das Wetter zu unterhalten.
Und dabei würde er es tun. Er würde bei ihr bleiben, auch wenn es sein ganzes Leben ruinieren würde.
Weil er eben so ist.
Janie schlägt mit der Faust auf die Armlehne des Sessels und lässt den Kopf zurückfallen.
Dann flüstert sie in den leeren Raum: »Das kann ich nicht machen!«
21:30 Uhr
Sie sieht alles durch, was sie bei Henry findet. Seine Geschäftsberichte. Notizen, die er sich gemacht hat, Einkaufslisten. Prospekte über Migräne. Und im Internet hat er jede Menge medizinischer Websites markiert sowie verschiedene Seiten, die sich mit der Bekämpfung von Schmerzen befassen.
Sie fragt sich, was wäre, wenn er eine Versicherung hätte und wenn sie den Tumor oder das Aneurysma oder was es auch ist rechtzeitig erkannt hätten … ob er dann immer noch da wäre.
Aber dann hätte sie ihn nie getroffen.
Sie muss daran denken, wie er sich das Haar rauft und den Kopf hält. Der erstarrte, gequälte Gesichtsausdruck. Sie überlegt, ob er immer noch solche Schmerzen hat, jetzt, wo er hilflos im Krankenhausbett liegt. Sie muss daran denken, wie er sie um Hilfe gebeten hat, und spricht zu den digitalen Worten auf dem Bildschirm.
»Ich wünschte, ich wüsste, wie ich dir helfen kann, Henry. Ich vermute … ich hoffe nur, du lässt bald einfach los, damit du es hinter dir hast.«
Janie löst die warmen Oberschenkel vom schwitzigen Plastikstuhl und sieht sich in dem kleinen Wohnzimmer um. Sie stellt sich vor, wie er hier ist, in diesem winzigen, gemütlichen Haus weit weg von allem Lärm und den Menschen.
Sie geht in die Küche, wo die Schachtel, die Carrie gefunden hat, immer noch auf der Arbeitsfläche steht. Janie ist versucht, darin zu stöbern. Die Briefe zu lesen, die sie in der leichten Brise vom offenen Fenster her beinahe darum anflehen. Dennoch …
Zwei Dinge:
Sie hat keine Lust, irgendwelche intimen ekligen Liebesbriefe ihrer alkoholsüchtigen, erbärmlichen Mutter zu lesen.
Und:
Sie möchte Henry nicht noch mehr bemitleiden, als sie es jetzt schon tut.
Sie hat genug Kummer, vielen Dank. Genug Sorgen. Genug davon, jemanden kennenzulernen, der sie verstehen könnte, kurz bevor er stirbt.
Gerne würde sie hier alles übernehmen. Aber sie wird ihn nicht lieben. Dafür ist es zu spät. Er ist schon zu weit weg. Und auf sie wartet hinter der nächsten Ecke noch genügend Kummer.
Janie holt tief Luft, schüttelt den Kopf und stellt die Schachtel wieder in den Schrank, wo Carrie sie gefunden hat.
Sie räumt im Haus auf, sodass es genauso aussieht wie zu dem Zeitpunkt, als sie es das erste Mal betreten hat. Sie schaltet den Computer und die Lampe aus und bleibt im Dunkeln stehen, um der Stille zu lauschen.
Sie sehnt sich danach – sie wünscht sich diesen Frieden in ihrem Leben. Und sie weiß jetzt, dass sie ihn haben kann, sobald Henry stirbt. Diesen Ort, an dem sie ihre Wachsamkeit aufgeben und einfach leben kann. Wo sie sich nicht davor fürchten muss, sich in fremden Träumen zu verfangen.
Etwas tief in ihr sehnt sich danach mehr als nach irgendetwas anderem. Sogar mehr als nach Carl.
Vielleicht ist es eine Überlebenstechnik.
Vielleicht ist es aber auch nur so, dass sie einfach eine Einzelgängerin ist, wie sie es auch schon war, bevor die ganze Sache mit Carl angefangen hat. Und es immer sein wird.
So sieht es auf jeden Fall aus.
Also setzt sie sich wieder in den alten Sessel, im Dunkeln, in diesem Zufluchtsort. Sie fragt sich, was das Leben wohl für sie bereithält. Wie sie für ihre Mutter sorgen soll, oder warum sie es überhaupt tun sollte – vielleicht sollte sich Dorothea von jetzt an um sich selbst kümmern. Vielleicht hat Janie sie nur die ganze Zeit daran
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