SLEEP - Ich weiss, was du letzte Nacht getraeumt hast
gequälten Ausdruck, er ballt nicht mehr die Fäuste, seine Hände liegen entspannt neben seinem Gesicht. Er sieht friedlich aus. Die Qual ist vorüber.
Achselzuckend verlässt die Schwester das Zimmer. Janie starrt ihn weiter an. Es ist aufregend zu sehen, dass es ihm besser geht, und sie hofft, dass er nicht länger diese schrecklichen Albträume hat. Sie fragt sich kurz, ob er es vielleicht überstehen könnte.
Aber sie weiß, dass die Chancen besser stehen, dass er endlich stirbt.
06:21 Uhr
Janie hat einen Plan. Sie geht in Henrys Badezimmer und schließt die Tür hinter sich. Sie weiß, dass sie nicht mehr viel Kraft hat, aber falls sie es beim nächsten Mal nicht schafft, sich zurückzuziehen, kann sie einfach die Tür schließen. Ein Kinderspiel.
Als sie die Tür wieder öffnet, wird sie in den Traum gezogen. Langsam. Vorsichtig. Kein statisches Rauschen, keine bunten Mauern, die sie treffen.
Es ist nur die dunkle Sporthalle, in die durch das hohe Fenster ein Streifen Licht fällt.
Auch die Gänge sind jetzt leer.
Miss Stubin, Henry … sie sind beide fort.
Alles, was von Henry bleibt, ist der Stuhl.
Und darauf liegt ein Zettel.
Meine liebe Janie,
es wurde viel von dir verlangt. Und dennoch bist du immer noch stärker, als du glaubst.
Bis wir uns wiedersehen
Martha
P.S.: Henry möchte, dass du über Morton’s Fork nachdenkst.
06:28 Uhr
Janie schließt die Tür hinter ihrem letzten Traum.
Sobald sie dazu in der Lage ist, verlässt sie den Raum und schlendert durch die Gänge nach draußen zur Bushaltstelle, fährt nach Hause und fällt ins Bett.
Dienstag
8. August 2006, 11:13 Uhr
Als Janie aufwacht, schwitzt sie wie ein Marathonläufer. Ihre Wange klebt am Kopfkissenbezug, ihre Haare sind triefnass. Im Haus herrschen mindestens hundert Grad.
Und sie hat Hunger.
Riesenhunger.
Sie stolpert in die Küche, stellt sich vor den Kühlschrank und isst, was sie gerade finden kann. Sie hält die kalte Milchflasche an ihr Gesicht, um sich abzukühlen, bevor sie einen großen Schluck trinkt. Dann nimmt sie einen Eiswürfel und reibt sich damit über Hals und Arme.
»Mein Gott«, murmelt sie und nimmt eine Schüssel mit übrig gebliebenen Spaghetti mit Hackfleisch heraus. »Ich brauche frische Luft!«
Fünfzehn Minuten später steht sie unter einer kalten Dusche. Es ist fast zu kalt, aber Janie weiß, dass sie gleich wieder schwitzen wird, sobald sie herauskommt, deshalb bleibt die Temperatureinstellung auf eiskalt.
Als sie das Wasser abstellt und aus der Dusche tritt, hört sie, wie ihre Mutter telefoniert. Janie erstarrt und lauscht einen Augenblick, dann schlingt sie sich ein Handtuch um den Körper, hält es vor der Brust fest und macht die Badezimmertür auf. Ihre nassen Haare tropfen und hinterlassen eine Pfütze auf dem Boden.
Dorothea trägt ihr Nachthemd. Sie legt den Telefonhörer auf und wendet sich Janie zu. Ihr Gesicht wirkt alt und eingefallen. Blass wie der Mond.
»Er ist tot«, sagt sie und zuckt mit den Achseln. »Wurde auch Zeit.«
Sie schlurft wieder in ihr Zimmer, doch nicht, bevor Janie gesehen hat, dass es um ihre Mundwinkel herum zuckt.
Janie steht tropfend im Flur, wie gelähmt.
»Er ist tot«, wiederholt sie. Es ist, als würde es erst durch den Klang ihrer eigenen Stimme real. Janie lehnt sich an die Wand und gleitet daran herunter, bis sie auf dem Boden sitzt, und legt den Kopf an die Wand. »Mein Vater ist tot.«
Immer noch gefühllos.
Es ist vorbei.
Nach ein paar Minuten steht Janie auf und marschiert, ohne anzuklopfen, ins Zimmer ihrer Mutter. Dorothea sitzt weinend auf dem Bett.
»Also, was müssen wir jetzt tun?«, fragt Janie. »Ich meine, wegen der Beerdigung und so.«
»Keine Ahnung«, erwidert Dorothea. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich nichts damit zu tun haben will. Sie sollen sich darum kümmern.«
»Was?« Janie hat das Gefühl, sie müsse schreien. Sie will schon selbst das Krankenhaus anrufen, aber dann hält sie inne und wendet sich wieder ihrer Mutter zu. Sie versucht, ruhig zu bleiben. »Ruf sie noch mal an und sag ihnen, dass Henry Jude war. Er muss in ein jüdisches Bestattungsinstitut.« Sie betrachtet Dorotheas spärlich bestückten Schrank. »Hast du nicht mal ein einziges anständiges Kleid, Mum? Nicht eins?«
»Wozu brauche ich ein Kleid?«
»Für die Beerdigung«, erklärt Janie entschlossen.
»Da geh ich nicht hin.«
»Oh doch, das tust du.« Janie wird wütend. »Du gehst auf jeden Fall zur Beerdigung meines Vaters. Er hat dich
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