Slide - Durch die Augen eines Mörders
Ich bleibe vor der Tür stehen, würde mich am liebsten auf einem seiner Sofas einrollen und schlafen.
»Sylvia? Alles in Ordnung?«
Seine Stimme erschüttert mich. Er hält die Pizza knapp vor seinen Mund, als wollte er gerade hineinbeißen.
»Tut mir leid. Ich wollte nur …« Ich zeige willkürlich den Flur hinunter und will gehen.
»Nein, warte mal.« Er legt die Pizza weg und macht ein paar Schritte in meine Richtung. »Komm doch herein.«
Ich versuche, nicht zu seufzen, als ich in seinem Zimmer Zuflucht suche und mich auf ein Sofa fallenlasse. Mir war gar nicht klar, wie müde ich tatsächlich bin. Meine Finger wandern zu meiner Tasche, zu der Flasche mit den heiligen Koffeintabletten.
Besser nicht
, Mr Golden könnte mich melden, wenn er mich beim Pillenschlucken erwischt. Also muss ich noch ein bisschen durchhalten.
Mr Golden schließt die Tür und setzt sich in einen Sessel. Wir sitzen eine Weile schweigend da. Genau das brauche ich jetzt. Zeit zum Nachdenken. Raum zum Existieren. Die Spannung strömt aus meinen Schultern, als ich eins mit der muffigen alten Couch werde, einem weiteren Relikt aus Mr Goldens Kuriositätensammlung.
»Kommt es Ihnen manchmal auch so vor, als wäre das Leben zu durcheinander, um darüber zu reden?«, frage ich schließlich. Die Ereignisse der letzten Tage lassen alles unwirklich erscheinen, als wäre das Leben nur ein Film. Ein Film, dem ich nicht entkommen kann.
»Das geht mir ständig so.«
Ich schaue auf meine Hände – der schwarze Nagellack ist fast überall abgesplittert. »Ich kapiere nicht, wie ein Mensch einen anderen völlig zerstören kann.«
Ich denke an das große Messer in der Hand des Mörders, bedeckt mit Sophies Blut, und dass Sophie gar nicht mehr wie ein Mensch wirkte, sondern wie ein lebloser Gegenstand.
»Geht es um Sophie?« Seine Frage klingt sanft und vorsichtig. Er fragt ganz anders, als es die Sozialarbeiterin tun würde. Nicht analytisch. Ohne Hintergedanken. Einfach neugierig.
»Ja.« Ich atme hörbar aus. Ich spüre, wie der Druck in mir wächst, der Damm gleich brechen wird. Vielleicht kann ich irgendwie um das herumreden, was passiert ist. Ohne Einzelheiten, nur um mir ein wenig Erleichterung zu verschaffen. »Sie war mit meiner Schwester befreundet.«
Er beugt sich vor. »Das muss schlimm für euch sein. Wie geht es Mattie?«
Ich knibbele an meinen Fingernägeln. »Nicht so gut. Sie meint … sie meint, sie könnte etwas mit Sophies Tod zu tun haben. Sie hat etwas Gemeines an dem Tag getan, an dem sie gestorben ist.«
»Das ist schlimm.« Mr Golden kratzt sich nachdenklich den Bart. »Aber niemand hat Sophie dazu gebracht, sich selbst zu töten. Das darf man nicht vergessen. Es war ihre eigene Entscheidung. Es ist furchtbar, aber niemand hat Sophie das Messer in die Hand gedrückt.«
Ich lasse abrupt die Hände in den Schoß fallen.
Woher weiß er von dem Messer? Haben die Lehrer die blutigen Einzelheiten bei einer Versammlung erfahren?
Er zuckt zusammen. »Ich weiß, das klingt brutal, Vee, aber Selbstmord ist letztlich eine egoistische Tat. Denk an ihre Eltern. Denk an ihre Freundinnen, die sich fragen, wie sie es hätten verhindern können. Was immer deine Schwester getan hat, es war nicht Grund dafür, dass Sophie sich das Leben genommen hat.«
»Aber Sophie hat sich nicht …« Ich zwinge mich, den Satz nicht zu vollenden. Wie soll ich es erklären, ohne mein Geheimnis preiszugeben?
»Was hat Sophie nicht?« Mr Golden wirkt plötzlich angespannt, seine Finger krallen sich in die Hose.
Ich trommle frustriert auf meinem Bein. Wie soll ich es ihm begreiflich machen?
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Sophie so etwas tun würde.« Mir fallen die Worte ihrer Mutter ein. »Sie war stärker, als sie dachte.«
Sein Gesicht wird weich. »Sehr nett, dass du das sagst, Vee. Trotzdem kannst du nicht wissen, wie es in ihr ausgesehen hat. Depressionen sind ein hinterhältiges Ungeheuer. Sie fressen einen von innen auf. Ich glaube, dass Sophie furchtbar gelitten hat.«
Ich drücke die Fingerspitzen in die Schläfen und bewege sie kreisförmig. Innerhalb weniger Sekunden ist Mr Golden zu einer Autoritätsperson geworden, die irgendwelchen Mist redet, den sie gar nicht wissen kann. Ich hatte ihn anders eingeschätzt.
Ich stehe entrüstet auf.
»Es steckt mehr hinter Sophies Tod. Und ich werde herausfinden, was es ist.«
Ich drehe mich um, bevor er antworten kann, aber sein Gesichtsausdruck befriedigt mich –
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