Slide - Durch die Augen eines Mörders
Schatten.
8. Kapitel
A m Montag fallen mir im Biologieunterricht während eines Films über das Herz-Kreislauf-System die Augen zu. Es ist Stunden her, seit ich die letzte Koffeintablette genommen habe. Auf dem Bildschirm tanzen Blutzellen mit großen Augen und lächelnden Gesichtern und erklären, wie sie ihre Arbeit erledigen. Ein Herz wölbt sich, füllt sich mit rubinroter Flüssigkeit, zieht sich zusammen und pumpt das Blut in die Arterien.
Ich schließe die Augen und erinnere mich an alles.
Ihre Lippen sind geöffnet, als wollte sie etwas sagen, aber sie wird nie wieder sprechen. Schwarzes Haar auf weißer Haut. Das Blut sickert in die Bettdecke und formt eine dunkelrote Silhouette.
Ich frage mich, was sie zuletzt gedacht hat. Welches Gesicht sie zuletzt gesehen hat. Das Gesicht, hinter dem ich mich verbarg. Ich kann nicht Luft holen. Ich schlucke und schlucke und schlucke – tiefe, brennende Schlucke, aber sie reichen nicht aus.
»Sylvia!« Mrs Williams Stimme ertönt von ganz weit her. Ich spüre, dass ihre Hände mich wie Schraubzwingen umfassen und schütteln. Aus dem Nichts taucht eine Papiertüte auf, und ich halte sie vor den Mund, um meine Panik zu kontrollieren.
Bald kühlt das Feuer in meiner Brust ab, und ich nehme die Tüte weg. Ich sehe mich um und entdeckte eine Million gaffender Augen und offene Münder.
»Alles in Ordnung?« Mrs Williams beugt sich über mich.
»Ja, ich habe nur … schlecht geschlafen.«
Rollins schaut mich quer durchs Klassenzimmer an und wendet sich ab, als sich unsere Augen begegnen. Seit Freitagabend haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Seit dem Tag, an dem ich mich ihm hätte anvertrauen können und ihn stattdessen weggestoßen habe. Das ganze Wochenende habe ich damit gerechnet, dass er mich anruft, vor allem nach der Sache mit Sophie. Doch das hat er nicht getan. Das war mir eine Lehre, was Vertrauen angeht. Wenn man die Menschen am meisten braucht, verschwinden sie. Genau wie meine Mutter. Genau wie mein Vater.
Plötzlich verspüre ich den Drang, allein zu sein.
»Möchtest du ein bisschen Wasser trinken?« Ich weiß, Mrs Williams will mir die Möglichkeit geben, mich zu fassen, damit ich nicht so verrückt aussehe. Ich ergreife die Gelegenheit.
»Hm, ja.«
Als ich aufstehe, um den Blicken zu entkommen, legt sie mir die Hand auf die Schulter.
»Wir sind alle durcheinander«, sagt sie ruhig.
Ich nicke und schüttele ihre Hand ab. Ich habe das Gefühl, dass mir alle hinterherstarren. Jetzt bin ich nicht nur der narkoleptische Freak, sondern auch das Mädchen, das in Bio hyperventiliert hat. In der Mittagspause werden sie allerdings nicht über mich reden. Nicht, wenn es einen Selbstmord als Thema gibt.
Im Flur schaue ich in beide Richtungen. Niemand zu sehen. Die Toilette ist ganz in der Nähe, aber der Weg dorthin erschöpft mich. Ich überzeuge mich, dass ich allein bin, und schließe mich in der Kabine ein, die am weitesten von der Tür entfernt ist. Die Kabine, in der Sophie am Freitagmorgen war.
Mein Herz hämmert. Ich massiere meine Schläfen und starre auf das neue Graffito an der Toilettentür.
RIP Sophie
. Ich strecke die Hand aus und berühre die Worte auf dem kühlen Metall. Am Freitag war Sophie selbst hier drin, und jetzt bleiben von ihr nur Worte, eingeritzt in rote Farbe.
Rest in Peace – Ruhe in Frieden
. Eine nette Idee, aber wenn man es so abkürzt, RIP , erinnert es mich an ihre elfenbeinfarbene Haut und hervorstehenden Rippen. Ich drehe mich um und würge über der Toilette.
Als ich mir Minuten später das Gesicht wasche, knistert die Lautsprecheranlage. Miss Lamb, die Schulsekretärin, verkündet unter Tränen, dass wir alle Sophie Jacobs sehr vermissen werden. Morgen werde der Unterricht wegen der Beerdigung früher enden. Falls jemand von uns über den Verlust sprechen möchte, stehe die Sozialarbeiterin zur Verfügung. Sie habe ihren Terminplan freigeräumt. Ich stoße ein bitteres Lachen aus. Wenn ich der Sozialarbeiterin mein Problem erklären wollte, müsste sie ihren Terminplan für ein ganzes Jahr freiräumen.
In der Mittagspause bleibe ich meinem üblichen Platz fern. Ich will nicht mit Rollins sprechen, und bei der Erinnerung an Scotch und seinen Kumpel, die das Foto von Sophie anglotzen, wird mir übel. Ich laufe ziellos durch die Flure.
Dann komme ich am Zimmer von Mr Golden vorbei, der am Schreibtisch ein Stück Pizza isst. Sein Zimmer wirkt gemütlich und warm im Vergleich zum Rest der Schule.
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