Slide - Durch die Augen eines Mörders
schütte zwei kleine weiße Pillen in meine Hand, hübsche kleine Helfer, und stecke sie in die Tasche, bevor ich einen Pappbecher mit Wasser fülle und zu meiner Schwester gehe.
Das Einzige, was ich von ihr sehe, sind ihre fuchsiafarbenen Fußnägel. Sie liegt eingerollt im Bett unter einem Berg von Decken.
»Mattie?«
Die Tagesdecke bewegt sich, sie ist also noch wach. Ein gedämpftes »Hmmm?« dringt darunter hervor.
»Ich hab dir was mitgebracht.«
Sie schiebt die Decke beiseite und schaut mich ausdruckslos an. So habe ich sie noch nie erlebt. Sie ist doch diejenige, der es wichtig ist, ob ihr Haar gebürstet ist oder Schuhe und Handtasche zusammenpassen. Jetzt sind ihre Haare völlig verfilzt. Sie hat nicht einmal die getrocknete Wimperntusche abgewaschen.
Ich setze mich neben sie und halte ihr die Pillen hin. Sie nimmt sie wortlos, steckt sie in den Mund und spült sie mit dem Wasser hinunter. Sie sieht mich aus leeren Augen an.
»Sie kommt am Montag nicht in die Schule.« Als wäre ihr der Gedanke gerade erst gekommen.
»Nein.«
»Wir sollten in Spanisch unser Projekt vorstellen.«
Matties Gesicht fällt in sich zusammen, die Tränen kommen. Sie beugt sich vor und vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter, so dass mein T-Shirt nass wird. Ich tätschle ihr den Rücken, bin verlegen. Es gibt nichts zu sagen. Ich hoffe, es reicht, dass ich hier bin.
Minuten vergehen, vielleicht auch eine Stunde.
Schließlich sagt sie: »Es ist meine Schuld.«
»Nein, ist es nicht.« Ich kann nicht erklären, woher ich das weiß, aber ich lasse nicht zu, dass sie diese fremde Schuld mit sich herumträgt. Obwohl sie viele Dummheiten begangen hat, ist sie für das hier nicht verantwortlich. Diese Sache ist größer als wir beide.
»Wir haben ihr etwas angetan«, flüstert sie so leise, dass ich sie kaum hören kann.
»Was?« Ich beuge mich vor.
»Amber und ich. Wir haben was richtig Gemeines getan.«
Ich erinnere mich, wie Sophies Mutter sagte, eine echte Freundin würde so etwas nicht tun.
»Was denn, Mattie?«, frage ich sanft.
Mattie verschluckt einen Schluchzer. »Letztes Jahr haben Amber und ich bei Sophie übernachtet. Wir haben Eis gegessen und eine Essensschlacht veranstaltet. Es war einfach albern. Amber hat ihr Schokoladensirup in die Haare gespritzt.«
»Und?« Das klingt ja ziemlich harmlos.
»Als Sophie unter der Dusche war, hat sich Amber ins Badezimmer geschlichen und ein Foto mit dem Handy gemacht. Ich habe gesagt, sie soll es löschen. Ich dachte, sie hätte das auch getan. Bis gestern. Da kam Amber mit dieser Idee, sich dafür zu rächen, dass Sophie mit Scotch rumbumst. Und ich … habe mitgemacht.«
In meinem Bauch wächst die Angst. Ich will es gar nicht hören, aber es geht nicht anders. Ich muss die Wahrheit erfahren.
»Was habt ihr getan?«
Sie braucht einen Augenblick für die Antwort.
»Amber hat es an die Footballmannschaft geschickt.«
Ich schließe die Augen. Das müssen sich Scotch und sein Kumpel auf der Tribüne angesehen haben – ein Nacktfoto von Sophie. Scheiße. Einem Mädchen, das ohnehin Probleme mit seinem Körper hat, kann man wohl nichts Schlimmeres antun.
»Ich wollte sie davon abhalten. Ehrlich. Aber du kennst ja Amber.«
Ach Sophie. Arme Sophie.
Das also war der große Plan, von dem Amber in der Umkleide gesprochen hat, mit dem sie Sophie zurechtstutzen wollten. Jetzt verstehe ich auch die Szene in ihrem Zimmer – ihr Schluchzen, ihre verzweifelte Mutter, die sie trösten wollte –, und es zerreißt mir das Herz. Dennoch weiß ich, dass Sophie sich nicht umgebracht hat. Sie wurde ermordet.
»Glaubst du … meinst du, dass sie deshalb …« Mattie kann nicht weitersprechen.
Ich ziehe sie an mich. »Das hatte mit ihrem Tod nichts zu tun.«
»Aber«, sagt meine Schwester, und ihre Stimme ist nur ein Geist ihrer selbst, »ich habe gehört, es gäbe einen Abschiedsbrief. Sie hätte geschrieben
Das habe ich nicht verdient.
Was sonst könnte sie gemeint haben?«
Die Erinnerung an den Brief stürzt auf mich ein. Genau, warum hat der Mörder ihn hinterlassen? Damit alle an einen Selbstmord glauben? Was hat ihn oder sie zu dieser Formulierung bewogen?
»Ich weiß es nicht«, sage ich und suche nach einer plausiblen Erklärung. Ich kann ihr schlecht sagen, dass ein Psychopath ihre beste Freundin abgeschlachtet hat. »Vielleicht hat sie einfach ihr ganzes Leben damit gemeint.«
Wie gern würde ich ihr sagen, dass nicht der dumme Streich zu Sophies Tod
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