Slide - Durch die Augen eines Mörders
Wochenende?«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich war auf einem Konzert.«
»Ach ja? Bei welchem?«
»
The Belly-Button Lint
.«
»Nie gehört.«
»Glück gehabt.« Er verzieht das Gesicht und klemmt sich den Roman unter den Arm.
»Gutes Buch?«
Er grinst. »Ich stehe total auf Fitzgerald.«
»Ehrlich? Ich habe letztes Jahr
Der große Gatsby
gelesen. Fand ich nicht so toll.«
Wir sind die Letzten im Klassenzimmer, und mir wird bewusst, dass Mr Golden sich an den Papieren auf seinem Pult zu schaffen macht, damit es nicht aussieht, als würde er zuhören.
»Lass mich raten, du hast es für den Englisch-Unterricht gelesen. Du musstest die Lektürehilfe durcharbeiten. Und am Ende hast du einen fünfseitigen Aufsatz geschrieben, in dem du die Charaktere, die Symbole und das Thema analysieren musstest.« Zane schüttelt angewidert den Kopf.
»So in der Art.« Es waren nur drei Seiten, aber trotzdem.
»Es kotzt mich total an, wie Lehrer der Literatur das Leben aussaugen. Tu mir einen Gefallen, lies den
Gatsby
noch einmal, aber draußen, in der Dämmerung, unter einem Baum. Das ist eine völlig andere Erfahrung. Du kannst auch nur ein Kapitel lesen, aber versuch es wenigstens. Tust du das für mich?«
Er sieht so ernsthaft aus. Noch nie bin ich einem Menschen begegnet, der sich so leidenschaftlich mit Wörtern beschäftigt. Nun ja, Rollins schreibt auch gerne, aber um die Heuchelei um uns herum aufzudecken und nicht, weil er die Sprache so liebt. Wie Zane über F. Scott Fitzgerald redet, erinnert mich an das, was ich beim Anblick der Sterne empfinde. Sie sind größer als ich, größer als wir alle, und genau das macht sie schön.
»Versprochen.« Sein Gesichtsausdruck macht mich ganz kribbelig.
Nach der Schule hängen ein paar Schüler auf dem Parkplatz herum und schlagen die Zeit tot, bevor sie zum Footballtraining oder zur Theaterprobe oder was auch immer müssen. Ein paar Typen sitzen hinten in einem Pickup und diskutieren, wer am nächsten Wochenende das Bier bezahlen muss. Zwei Mädchen aus der zehnten Klasse teilen sich Kopfhörer und wackeln mit den Köpfen zu einem Rhythmus, den ich nicht hören kann.
Ich komme an dem Baum vorbei, unter dem Sophie immer ihren kleinen Chrysler Neon abgestellt hat. Ich sehe ihr ungezwungenes Lächeln und die Grübchen.
Ihre weitgeöffneten Augen. Den dunklen Schlitz an jedem Handgelenk. Das weiße Papier, das mich mit ihren falschen letzten Worten provoziert.
Ich muss stehenbleiben. Ich lasse den Rucksack fallen und lehne mich an den Baum, drücke die Handflächen auf die Augen, um die Erinnerungen zu vertreiben.
Als ich die Hände wegnehme, haben die Mädchen aufgehört zu wackeln. Sie starren mich an, wollen sich vermutlich nicht mit meiner Verrücktheit anstecken. Ich richte mich auf und versuche, so normal auszusehen, wie das bei einer Narkoleptikerin mit pinken Haaren möglich ist.
Eine Hand greift nach mir, jemand brüllt: »Aaaaaaaaa!«
Rollins taucht hinter dem Baum auf, eine Zigarette im Mundwinkel. Seine Lederjacke steht offen, darunter trägt er ein T-Shirt von den
Decemberists
.
»Hey, ich bin’s nur.«
Ich atme tief durch und funkle ihn an. Wie kann er mich das ganze Wochenende ignorieren, obwohl Sophie gestorben ist, und dann tun, als wäre nichts gewesen?
»Warum hast du dich hinter dem Baum versteckt? Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?«
Die beiden Mädchen gaffen mich noch immer an, und Rollins macht ein paar Schritte auf sie zu, die Hände wie Krallen ausgestreckt. »Buh!« Sie gehen nervös davon.
Als er wiederkommt, schaut er mich entschuldigend an. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken. Nasty hat gesagt, ich muss einen Monat nachsitzen, wenn er mich noch einmal beim Rauchen erwischt. Daher bin ich ein bisschen abgetaucht.«
Ich warte, dass er sich wegen Freitagabend entschuldigt oder wenigstens etwas über Sophies Tod sagt. Doch er schaut nur auf seine Schuhe, die Hände in den Taschen vergraben.
»Was ist denn heute in Bio passiert? Ich wollte dich in Psychologie schon fragen, aber du warst ja beschäftigt.« Das letzte Wort spuckt er förmlich aus.
Wäre er in letzter Zeit nicht so abweisend gewesen, würde ich ihm vielleicht die Wahrheit sagen – dass die Welt seit Sophies Tod dunkler geworden ist. Dass ich Angst vor meinem eigenen Schatten habe. Aber wenn er das wirklich würde wissen wollen, hätte er mich angerufen. Er wäre mir nachgegangen, als ich in Bio ausgeflippt bin. Er wäre nach
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