Slide - Durch die Augen eines Mörders
tippt mir auf die Schulter. Als ich mich umdrehe, steht sie da. Sie trägt zerrissene Jeans und ein T-Shirt von Alice in Chains.
»Vee«, sagt sie mit einer sanften, flimmernden Stimme. Sie zieht mich zu einer Bank, und wir setzen uns, wobei wir uns fest an den Händen halten. Ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter und atme ihren Muttergeruch nach Puder, Veilchen und Milch ein.
»Mom.«
Es tut so gut, das Wort zu sagen. Ich muss sie so viele Dinge fragen. Woher wusste sie, dass sie in Dad verliebt war? Haben seine Küsse wie Donuts mit Gelee geschmeckt? Wie soll ich jeden Tag mit dem Wissen leben, dass Menschen zu furchtbaren Dingen fähig sind? Wie soll ich meiner Schwester helfen, den Tod einer Freundin und den Verrat einer anderen zu überwinden?
All meine Fragen lösen sich auf, als ich ihr in die Augen sehe, die blau leuchten vor dem schwarzen Himmel.
Sie streicht mir die Haare aus dem Gesicht. »Mein Baby.«
»Ja. Ja, Mom.« Ich kann nicht aufhören, es zu sagen. »Mom.«
Es beginnt zu regnen, und jeder Tropfen, der über die Wange meiner Mutter rinnt, nimmt ein bisschen von ihr weg. Sie umarmt mich ein letztes Mal, und dann wird der Regen stärker und wäscht sie vollkommen weg. Der Regen wäscht alles weg.
Ich weine, als ich in Matties Zimmer aufwache. Es ist so ungerecht, dass ich meine Mutter im Traum für ein paar Sekunden zurückbekomme und wieder verliere, sobald ich die Augen öffne. Das Kissen ist nass von meinen Tränen.
Der Wecker steht auf kurz nach zehn. Ich muss aufstehen, mich irgendwie wach halten. Ich schlüpfe aus dem Bett, gehe auf Zehenspitzen in den Flur und lehne die Tür hinter mir an.
In meinem Zimmer schalte ich das Licht ein. Es blendet mich. Ich entdecke ein Gesicht in der Zimmerecke, doch es ist nur der Engel auf dem T-Shirt von den
Smashing Pumpkins
. Ich hatte es über die Lehne des Schaukelstuhls gehängt und dort vergessen. Es ist etwas an den Augen des Engels, sein Gesichtsausdruck. Er erinnert mich an meine Mutter.
Ich fühle mich zu dem T-Shirt hingezogen, schiebe die Arme hinein und streife es über den Kopf. Es ist weicher, als es aussieht, aber trotzdem nur ein armseliger Ersatz für die Umarmung meiner Mutter, die ich im Traum erlebt habe.
Nachdem ich einige Koffeintabletten geschluckt habe, nehme ich das Astronomiebuch vom Nachttisch. Ich schlage es willkürlich auf und lese etwas über die Urknalltheorie. Nach einem Absatz verschwimmen die Wörter vor meinen Augen.
Schwindel. Ein leichter Schmerz hinter den Augen.
Gleich werde ich wandern.
Und dann wird mir klar, dass ich das T-Shirt trage, das Rollins mir geschenkt hat.
Ich bin mitten auf einem Feld – keinem natürlichen Feld, sondern einem künstlich angelegten, komplett mit weißen Linien fürs Footballspiel. Ich sehe die dunklen, unverkennbaren Umrisse der Schule. Dahinter den schwarzen, Himmel, an dem die Sterne singen.
Rollins geht über das Footballfeld in Richtung Torpfosten. Es ist seltsam, in ihm zu stecken. Wie er sich bewegt, sein schlaksiger Gang, alles so vertraut – doch habe ich es noch nie aus dieser Perspektive gesehen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, nie in ihn zu wandern. Ich dachte immer, er hätte seine Gefühle einfach gut unter Kontrolle. Er würde nie einen emotionalen Abdruck hinterlassen.
Außer auf dem T-Shirt, das er mir geschenkt hat. Sonderbar.
Als er sich dem Torpfosten nähert, sehe ich dort jemanden auf ihn warten. Eine weibliche Gestalt. Meine Eifersucht überrascht mich. Ich wusste nicht, dass er mit jemandem zusammen ist. Haben wir uns so sehr entfremdet, dass ich es nicht gemerkt habe?
Das Haar des Mädchens schimmert im Licht einer Straßenlaterne. Ich kenne nur ein Mädchen, das genau diesen schokobraunen Farbton hat. Amber Prescott.
Ich bin total verwirrt. Amber hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie auf Rollins steht, aber er hat sie immer abblitzen lassen. Was geht hier vor?
Als er noch fünf Meter von ihr entfernt ist, höre ich ihn sagen: »Danke, dass du gekommen bist.«
Amber lächelt und greift in ihre schwarz-weiße Schultertasche von Prada. Sie holt ein zerknittertes Päckchen heraus, das ich in der Dunkelheit nicht erkennen kann.
»Ich bin froh, dass du angerufen hast. Ich war ein bisschen einsam.«
Rollins will antworten, aber ich werde weggerissen, bevor ich hören kann, was er sagt. Ich sitze aufrecht da und ringe nach Luft. Ich ziehe das T-Shirt aus und werfe es auf den Boden.
Mein Handy weckt mich, bevor es
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