Slide - Durch die Augen eines Mörders
hell wird. Ich setze mich hin und taste danach. Ich muss in den frühen Morgenstunden eingeschlafen sein, trotz der vielen Tabletten, die ich geschluckt habe, nachdem ich Rollins und Amber zusammen gesehen habe.
Es ist
Don’t worry, be happy
, der Klingelton für die Anrufe meines Vaters. Er hat ihn letztes Jahr für mich heruntergeladen, als ich Stress wegen der Abschlussprüfungen hatte. Ich schwöre, ich hasse den Song noch mehr als meinen Wecker.
»Dad? Es ist halb sechs.«
»Vee, ich muss mit dir reden.«
Als er das sagt, weiß ich, dass etwas Schreckliches passiert ist. So etwas sagt man, bevor man eine schlimme Nachricht überbringt. Wenn man einem Kind sagt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Oder dass die Katze von einem Lastwagen überfahren wurde.
Oder etwas noch viel, viel Schlimmeres.
Ich sitze aufrecht da und presse das Handy ans Ohr.
»Was ist los?«
»Ambers Eltern haben mich angerufen. Sie ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie haben gefragt, ob sie bei Mattie sei.« Aber das ist nicht alles. Ich höre, dass er mir noch nicht alles gesagt hat.
»Und?«
»Liebes, Amber ist tot.« Die brutale Endgültigkeit seiner Worte nimmt mir den Atem.
Ich muss nach Worten ringen, erinnere mich an das letzte Mal, dass ich Amber gesehen habe. Es war vor dem Büro des Direktors. Da habe ich sie das letzte Mal
mit eigenen Augen
gesehen.
Aber ich war auch gegen zehn Uhr gestern Abend mit ihr zusammen.
Besser gesagt, Rollins.
Ich halte das Handy ans andere Ohr.
»Mr Golden hat den Schuss gehört und ihre Leiche auf dem Footballfeld gefunden. Ist er nicht euer Psychologielehrer? Er war wohl in der Schule, um den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten. Gott weiß, weshalb er so spät noch gearbeitet hat. Welcher Lehrer bleibt denn bis zehn in der Schule? Die Polizei sagt … es sähe ebenfalls aus wie Selbstmord.«
Ich wette, dass es kein Selbstmord war. Genau wie bei Sophie.
»Alles okay, Vee?« Er will wissen, ob ich in der Lage bin, mich um Mattie zu kümmern. Was bleibt mir anderes übrig? Ich muss funktionieren. Ich muss auf Mattie aufpassen.
Zwei Cheerleaderinnen sind tot. Sie könnte die nächste sein.
»Ich komme heute Abend nach Hause. Das ist eine schlimme Situation. Du musst bei Mattie bleiben, bis ich komme. Heute fällt der Unterricht aus. Die Polizei hat alles abgeriegelt.«
Ich stelle es mir vor – gelbes Band, das um das Footballfeld gespannt ist und im Wind flattert. Kreidemarkierungen, wo die Leiche gefunden wurde. Kann man mit Kreide auf Gras malen?
Mein Vater reißt mich aus meinen Gedanken. »In Ordnung? In Ordnung, Vee? Schaffst du das?«
Ich nicke, was er natürlich nicht sehen kann. »Alles klar, Dad. Soll ich es ihr sagen?«
Ich höre, wie er erleichtert ausatmet. »Ja, das wäre vielleicht besser. Kommt ihr heute klar?« Seine Stimme verrät das schlechte Gewissen. Wieder ein traumatisches Ereignis, und er ist nicht bei uns.
»Keine Sorge«, sage ich und denke wieder an den Klingelton.
Be happy.
»Ich kümmere mich um alles.«
18. Kapitel
I n der Küche rühre ich Pfannkuchenteig an und überlege mir, wie ich es Mattie sagen soll. Den idealen Weg scheint es nicht zu geben. Zum Glück bin ich kein Arzt. Mein Vater macht das ständig durch, sucht nach den perfekten Worten, um schlechte Nachrichten zu überbringen. Ich frage mich, warum er es nicht besser kann. Vielleicht sollte ich mir überlegen, was meine Mutter an meiner Stelle gesagt hätte.
Ich gieße kleine Teigkreise in die brutzelnde Pfanne, nehme eine Hand voll Schokostückchen und lasse sie nacheinander auf die Pfannkuchen fallen. Als es klopft, zucke ich zusammen. Ich spähe durchs Fenster und sehe Rollins auf der Veranda stehen. Einen Augenblick lang erstarre ich, dann ducke ich mich, bevor er mich sieht. Es geschieht rein instinktiv. So sehr ich mich auch bemühe, mir fällt einfach keine Erklärung ein, weshalb Amber unmittelbar nach ihrem Treffen mit Rollins gestorben sein soll.
Er klopft wieder. Ich mache die Augen zu.
Geh. Weg.
Nach etwa fünf Minuten erhebe ich mich und schaue aus dem Fenster. Die Veranda ist verlassen. Rollins ist weg. Ich seufze erleichtert.
Ich schaufle die Pfannkuchen auf einen Teller und bleibe lange vor dem Kühlschrank stehen. Dort hängt ein Foto von meiner Mutter aus ihrer Collegezeit. Sie ist schlank und braun gebrannt, mit blondem Haar und weißem Tanktop, und sie lächelt. Darunter hängt ein Foto von meiner Schwester aus der achten Klasse. Dad
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