Slide - Durch die Augen eines Mörders
sich auf einem Tablett.
Ich setze mich neben sie, doch sie blickt nicht hoch, sondern spricht mit den Leuten auf den Fotos. »Was weißt du noch von ihr?« Sie fährt mit dem Finger über das Lächeln unserer Mutter.
»Über Mom?«, frage ich.
Mattie nickt. »Mir ist, als hätte ich alle wichtigen Sachen vergessen.«
Ich lege mich hin und schaue zur Decke. »Mal überlegen. Sie roch nach Veilchen. Wenn wir Auto gefahren sind, dachte sie sich Geschichten über die Sternbilder aus. Die waren wie Menschen für sie. Sie hatten alle eine Vergangenheit und Beziehungen und irgendwelche Angewohnheiten. Sie konnte stundenlang darüber reden, wie die Zwillinge um Andromeda gekämpft haben.«
Mattie blättert weiter. »Was noch?«
»Sie mochte Sandwiches mit Erdnusscreme und Bananen. Sie hörte gerne laut Musik und sprang dabei herum. Sie hat ihre Zehennägel lila lackiert.«
Sorgfältig betrachtet sie jede Seite im Album, als suche sie nach Hinweisen auf unsere Mutter. Die letzte Seite ist leer. Sie ist immer leer gewesen. Ich weiß nicht, was sie erwartet hat. Mattie schleudert das Album zu Boden. »Es ist nicht genug«, sagt sie, und ihre Worte werden von Schluchzern erstickt.
Ich setze mich hin und umarme sie. »Ich weiß«, flüstere ich, »es ist nicht genug. Aber hör mal, wir haben doch uns. Wenn du über etwas reden willst, dann komm zu mir. Egal worüber, okay?«
Mattie nickt und nimmt sich ein Taschentuch vom Nachttisch. Ich reibe ihr den Rücken, während sie sich die Nase putzt. Draußen ist es dämmrig geworden. Wir sind von Schatten umgeben.
Schließlich rückt meine Schwester von mir weg und drückt ein Kissen an ihre Brust. »Kann ich dich was fragen, Vee?«
»Klar.«
Sie zupft eine Fluse von ihrem Kissen. »Seit wann bist du nicht mehr mit Samantha und den anderen befreundet?«
Ich seufze. Von mir aus könnte Mattie ruhig glauben, dass mich die beliebten Mädchen ausgeschlossen haben, weil ich ein Freak bin, aber sie sieht mich an, als wolle sie wirklich die Wahrheit wissen. Außerdem muss sie erfahren, wozu die Leute fähig sind, mit denen sie herumhängt. Vielleicht kann ich sie davor bewahren, in die gleiche Situation zu geraten.
»Erinnerst du dich an das violette Kleid?«
Sie nickt aufgeregt. Sie war ja dabei, als ich es im Einkaufszentrum entdeckt habe. Damals war sie fast aufgeregter als ich.
Also erzähle ich es ihr.
Ich erzähle, dass Samantha und ich Scotch mochten. Dass er sich für mich entschieden hatte und Samantha mich deswegen bestrafen wollte. Ich erzähle ihr, wie wir vor dem Ball im Kapler Park getrunken haben, dass mir schlecht war und ich ohnmächtig wurde. Dass mein Kleid hochgeschoben war, als ich aufwachte, und Rollins auf Scotch einprügelte.
Ich verschweige nur das Wandern, aber das ist auch nicht nötig, um die Geschichte zu verstehen. Was passiert ist, hätte jedem passieren können. Die Geschichte ist nicht einzigartig. Aber sie reicht aus, um meine Schwester wieder zum Weinen zu bringen, und sie schlingt die Arme um mich und drückt mich ganz fest.
Es ist lange her, dass ich wegen dieser Sache geweint habe. Doch nun, da ich Mattie davon erzählt habe, sehe ich sie aus einer neuen Perspektive. Mein Herz blutet für das Mädchen im violetten Kleid, für das verliebte Mädchen, das mehr bekam, als es haben wollte. Und als ich daran denke, wie ich mit Samanthas Augen gesehen habe, dass mich Scotch in die Umkleide schleppte, weine ich um das Mädchen, das ich einmal gewesen bin.
Und so lasse ich mich von meiner Schwester umarmen und sage ja, als sie mich bittet, heute Nacht bei ihr zu bleiben. Es ist wie damals, als Mom gestorben war und sie Albträume hatte. Dann kam sie in mein Zimmer, und ich hielt die Decke hoch, damit sie drunterkriechen konnte.
Ich sehe zu, wie sich ihr Gesicht beim Einschlafen beruhigt. Sie wirkt so jung und verletzlich. Ich bin wütend, weil sie nicht mehr Zeit mit unserer Mutter hatte, weil ich der einzige Mensch bin, der ihr geblieben ist. Diese Gedanken kreisen über mir, und bevor ich es merke, bin ich eingeschlafen.
Ich bin auf einer Kirmes. Ein Riesenrad dreht sich vor und zurück, und ein trauriger Clown hält ein Bündel schwarzer Luftballons. Meine Mutter sitzt auf einem Karussell mit einem lila Einhorn. Ich sehe sie auf mich zukommen, und sie winkt, ihr Gesicht strahlt vor Aufregung. Sie sieht aus wie auf den Bildern, jung und hinreißend.
Sie sieht aus wie ein Engel.
Ich laufe zum Tor und drücke dagegen, rufe nach ihr. Jemand
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