Slide - Durch die Augen eines Mörders
würde ich meinen Verdacht laut herausschreien.
Sophie hat sich nicht umgebracht. Amber hat sich nicht umgebracht. Unter uns ist ein Mörder, passt lieber auf.
Stattdessen setze ich konzentriert einen Fuß vor den anderen, während ich mit Zane auf die Tribüne steige. Wir suchen uns Plätze ganz hinten, von denen aus wir die Schüler und die nervös umhereilenden Lehrer beobachten können.
Zane drückt meine Hand. »Alles wird gut.« Obwohl ich mir sicher bin, dass er sich irrt, bin ich ihm dankbar.
Auf dem Boden der Turnhalle werden drei gigantische Leinwände aufgestellt. Die mittlere steht parallel zur Tribüne, die beiden anderen sind nach innen geneigt. Plötzlich geht das Licht aus, und ein Projektor wirft zu lauter Rockmusik Bilder und Wörter auf die Leinwände. Ein Rotschopf streitet mit ihren Freundinnen. Ein Typ mit Baseballkappe hockt vor der Schule auf der Treppe, den Kopf in den Händen vergraben. Eine schöne Blondine steht mit einer Flasche Tabletten in der Hand vor einem Spiegel.
Wörter wie
Traurigkeit, Einsamkeit
und
Depression
wechseln sich mit den Bildern ab. Die Diashow dauert etwa fünf Minuten, und als das letzte Bild erscheint, erstreckt es sich über alle drei Leinwände. Es ist die Rufnummer einer Telefonberatung für Selbstmordgefährdete.
»Ich glaube, mir wird schlecht«, murmele ich.
Auf einmal ist es furchtbar heiß. Ich kann nicht atmen. Ich. Muss. Hier. Raus.
Ich lasse Zanes Hand los und stehe auf. Er erhebt sich, als wollte er mitkommen, aber ich schiebe ihn weg. Ich will allein sein. Ich brauche Luft zum Atmen. Irgendwie gelingt es mir, die Tribüne hinunterzusteigen und aus der Halle zu schlüpfen.
Draußen im Flur ist es viel kühler. Ich lehne mich an einen Trophäenschrank mit blank polierten goldenen Pokalen und kneife die Augen zu. Was hat mich an der Versammlung so gestört – außer der Tatsache, dass sie unter vollkommen falschen Voraussetzungen geplant wurde?
Vermutlich wäre mir auch schlecht geworden, wenn Sophie und Amber tatsächlich Selbstmord begangen hätten. Die ganze Sache wirkte so kommerziell, so gezwungen. Es war wie eine Diashow von MTV . Eine Reality-Sendung –
Das wahre Leben: Jemand tötet Cheerleaderinnen und lässt es wie Selbstmord aussehen.
Als die Übelkeit sich legt, gehe ich den Flur entlang zur Mädchentoilette. Ich biege um die Ecke und bleibe abrupt stehen.
Ein Stück weiter stopft Scotch gerade einige Papiere in einen Spind.
Ich verstecke mich. Was hat er im Flur der Neuntklässler zu suchen? Nach einigen Sekunden wird die Tür zugeknallt. Angespannt horche ich auf seine Schritte, aber sie werden immer leiser. Er geht in die andere Richtung.
Vorsichtig stecke ich den Kopf hinaus. Ich sehe noch seinen Rücken, dann biegt er um die Ecke zum Schülerausgang. Mitten im Flur liegt etwas Schwarzes auf dem Boden.
Ich zähle bis zehn, falls er merken sollte, dass er etwas verloren hat, und noch einmal zurückkommt. Dann tauche ich aus meinem Versteck auf und gehe zu dem schwarzen Ding. Es ist ein Lederhandschuh.
Ein Gedanke blitzt in mir auf:
Vielleicht kann ich ihn gebrauchen.
Ich weiß nicht, weshalb ich nicht früher darauf gekommen bin. Ich habe mein Wandern immer als Behinderung betrachtet, als etwas, das
gegen meinen Willen
geschieht. Wenn ich mich nun aber zum Wandern zwinge, während ich den Handschuh festhalte?
Die Vorstellung, in Scotchs Kopf einzudringen, macht mir Angst. Wenn ich ihn sehe, wird mir immer schlecht. Ich konnte seine Gegenwart kaum ertragen, als ich in Amber geschlüpft war. Würde ich wirklich in der Lage sein, mit voller Absicht in ihn zu wandern?
Ich stelle mir meine Schwester vor – zu Hause, im Bett, tief schlafend. Hilflos. Wenn ich nicht herausfinde, wer der Mörder ist, könnte sie die Nächste sein.
Meine Entscheidung ist gefallen. Ich bücke mich, hebe den Handschuh auf und stecke ihn in die Tasche. Plötzlich überkommt mich die Angst, dass Scotch es doch merkt und zurückkommt, also gehe ich wieder zur Turnhalle.
Alle Klassenzimmer sind dunkel und verlassen, bis auf eins – Mr Goldens Zimmer. Vorhin habe ich nicht bemerkt, dass dort Licht brennt. Vorsichtig nähere ich mich und spähe hinein. Direktor Nast steht mit dem Rücken zu mir, Mr Golden sitzt am Schreibtisch und schaut auf seine gefalteten Hände. Ich weiche zurück, damit er mich nicht sieht.
Mr Nast klingt peinlich berührt. »Joe, haben Sie wirklich von Sophie Jacobs’ Schwangerschaft gewusst?«
Pause.
»Ja. Sie ist am
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