Slide - Durch die Augen eines Mörders
Freitag zu mir gekommen, um darüber zu sprechen.«
Nast räuspert sich. »Können Sie mir sagen, wer der Vater ist?«
»Tut mir leid, Steve, aber das möchte ich lieber nicht tun. Das Mädchen ist tot. Hat sie nicht ein bisschen Privatsphäre verdient?«
»Die Sache ist die, es hat Beschwerden gegeben. All diese Gerüchte machen die Eltern Ihrer Schüler nervös. Jede Information, die Sie mir geben können, wird dazu beitragen, Sie zu entlasten. Ansonsten muss ich Sie bitten, Urlaub zu nehmen, bis die Sache erledigt ist.«
Noch eine Pause.
»Joe, ich will Ihnen doch nur helfen.«
Mr Golden sagt nichts.
Mr Nast stößt einen genervten Laut aus und verlässt das Zimmer. Als er an mir vorbeigeht, mache ich mich am erstbesten Spind zu schaffen. Er funkelt mich an, bevor er weiter in Richtung Turnhalle geht. Als er weg ist, werfe ich einen Blick ins Zimmer. Mr Golden hat sich nicht bewegt. Er sitzt einfach nur da und starrt auf seine Hände.
Mein neues aktives Ich flüstert mir zu, ich solle mir Informationen besorgen. Selbst wenn er der Mörder ist, kann er mir hier in der Schule kaum etwas tun. Vielleicht kann ich sogar etwas mit seinem emotionalen Abdruck entwenden, damit ich ihn später beobachten kann.
»Mr Golden?« Ich mache einen Schritt ins Zimmer. Er hebt den Kopf und schaut verwirrt, als er seinen Namen hört. »Hey … hm, ich hätte noch einige Fragen wegen der Lektüreaufgabe. Haben Sie eine Minute Zeit?«
Er schaut mich an, als käme ich von einem anderen Planeten. »Alles in Ordnung, Mr Golden?«
Er stößt einen gewaltigen Seufzer aus. »Ich kann nicht fassen, was mit mir geschieht.« Er scheint eher mit sich selbst als mit mir zu sprechen. Er tritt an den Schrank, holt einen Karton heraus und kehrt zum Schreibtisch zurück. Er fängt an, willkürlich Dinge hineinzuwerfen – eine halbleere Tüte Hustenbonbons, eine Homer-Simpson-Puppe, ein paar
Newsweek-
Hefte.
»Die Leute reden. Sie glauben, ich hätte etwas mit den Todesfällen zu tun.« Er spricht monoton, wirkt nicht wütend oder aufgebracht oder sonst etwas. Nur wie betäubt.
»Warum sollten sie das denken?«, frage ich vorsichtig.
»Weil sie jemandem die Schuld geben wollen«, antwortet er verbittert. »Sophie hat mich um Hilfe gebeten. Ich gehe in dieselbe Kirche wie sie und kenne ihre Familie. Als sie schwanger wurde, bat sie mich um Rat. Ich nehme an, jemand hat uns zusammen gesehen und die falschen Schlüsse gezogen.«
Ich denke gründlich über seine Worte nach. Würde ein Lehrer mit einer Schülerin durch die Gegend fahren, selbst wenn er ein Freund der Familie ist? Selbst wenn sie dieselbe Kirche besuchen? Das kommt mir nach wie vor verdächtig vor.
»Nun, da Amber tot ist, denken sich die Leute alle möglichen Geschichten aus. Ich sage dir, alle wollen immer nur das Schlimmste denken.« Er murmelt etwas von wegen »gottverdammte Hexenjagd« und packt weiter seine Sachen zusammen.
»Was werden Sie tun?« Ich schaue mich nach etwas um, das in meine Tasche passt.
»Was wohl? Ich gehe nach Hause.«
Ich höre Stimmen im Flur. Die Versammlung muss vorbei sein.
»Ich gehe besser.«
»Da hast du wohl recht.« Mr Golden widmet sich wieder seinem Schreibtisch.
Da sehe ich es – genau vor meiner Nase. Es war die ganze Zeit da. Warum ist es mir nicht früher aufgefallen?
Der Terminkalender.
Er sieht völlig harmlos aus – nur ein normaler Terminkalender, wie man ihn in jedem Büroladen kaufen kann. Weiße Seiten, die Monate und Tage in fetter, schwarzer Schrift. Genau wie die Seite, die an dem Tag, an dem Sophie gestorben ist, an unserer Haustür klebte.
Mir ist, als könnte ich nicht atmen. Mein Herz hämmert. Ich zwinge mich, mich ganz ruhig umzudrehen und zur Tür zu gehen. Ich schaue mich noch einmal um, will sichergehen, dass Mr Golden noch mit Packen beschäftigt ist. Dann schnappe ich mir rasch eine winzige Figur aus dem Bücherregal neben der Tür.
Und verschwinde.
Mein Handy vibriert, als ich mich durch die Menge kämpfe.
»Hallo?«
Es ist mein Vater. »Hey, Vee – könntest du mir einen Gefallen tun und Matties Bücher holen? Ich habe das Gefühl, sie sollte noch nicht wieder zur Schule gehen. Es wäre gut, wenn sie zu Hause ein bisschen arbeiten könnte.«
»Klar«, sage ich und lege auf. Als ich das Handy wegstecke, ziehe ich die gestohlene Figur aus der Tasche. Es ist eine winzige Bronzestatue von Sigmund Freud. Genau das, woran Mr Goldens Herz hängen dürfte. Ich stecke sie wieder ein
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