Slide - Durch die Augen eines Mörders
über den Stoff. Er ist so rau, dass meine Haut kribbelt.
Ich warte ab.
Nichts passiert.
Ich warte weiter.
Nichts.
Es ist nicht so einfach, wie ich dachte.
Ich klatsche den Handschuh gegen meinen Oberschenkel. Möglicherweise hat Scotch einfach keinen Abdruck darauf hinterlassen. Er scheint kein sonderlich emotionaler Mensch zu sein.
Was soll ich machen, wenn es nicht funktioniert? Ich stelle mir vor, wie ich mich spät in der Nacht bei Scotch ins Haus schleiche und mir etwas schnappe, woran er hängt. Einen Football oder eine Zeitschrift mit nackten Mädchen. Aber ich mache mir etwas vor. Es wäre dumm, ins Haus eines mutmaßlichen Mörders einzubrechen. Das hier
muss
einfach funktionieren.
Mein Handy klingelt. Schon wieder Rollins. Er hat den ganzen Nachmittag angerufen. Jedes Mal ist die Mailbox angegangen. Zuerst hat er noch Nachrichten hinterlassen, ich solle zurückrufen. Jetzt legt er einfach auf, wenn ich mich nicht melde.
Es ist ja nicht so, dass ich nicht mit ihm reden möchte. Das möchte ich sehr gern. Ich möchte, dass er mir erklärt, was genau er mit Amber kurz vor ihrem Tod auf dem Footballfeld zu suchen hatte. Aber diese Frage kann ich ihm nicht stellen. Ich kann ihm nicht erklären, woher ich weiß, dass er dort war. Und bevor ich nicht sicher weiß, wer Sophie getötet hat, kann ich nicht riskieren, ihn in meine Nähe zu lassen – und schon gar nicht in Matties Nähe.
Das Handy verstummt.
Gut so.
Ich widme mich wieder meinem Plan, reibe den Handschuh an meiner Wange, atme den Geruch von Scotch ein. Schweiß, Orangenshampoo. Den Geruch jenes längst vergangenen Abends. Mir wird übel.
Die Sekunden vergehen. Bald werde ich schläfrig.
Im Zimmer wird es dunkel, und ich verliere die Kontrolle über die Gegenwart.
Ich wandere.
Ein dunkles Zimmer nimmt um mich herum Gestalt an, nur erhellt vom Fernseher, in dem ein Footballspiel läuft. Die Wände sind mit Holzimitat getäfelt. Mehrere gerahmte Poster zeigen Footballspieler, die ich nicht kenne. Ich lümmele in einem Ledersessel, eine kalte Getränkedose in der Hand. Scotch hebt die Hand und nimmt einen Schluck. Ich rechne mit etwas Süßem und bin überrascht, weil es so bitter schmeckt.
Bier.
Warum trinkt Scotch nachmittags Bier?
Er macht den Mund auf, und eine tiefe Stimme – viel tiefer als die von Scotch – ruft: »Tricia? Trish! Du wolltest mir doch verdammt nochmal ein Sandwich machen.«
Eine zierliche Frau taucht auf, die ein weiteres Bier und einen Teller bringt.
»Tut mir leid, Hank, ich hatte noch mit der Wäsche zu tun.«
Hank.
Nicht Scotch.
Verdammt.
Ich bin in seinen Vater gewandert.
Ich erwache auf meinem Bett, das Kissen unter dem Kopf.
Jemand klopft an die Tür und tritt ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Vee?«, fragt mein Vater. »Hast du Matties Bücher mitgebracht?«
»Hm, ja«, sage ich und setze mich hin. Ich deute auf den Bücherstapel, der im Schaukelstuhl meiner Mutter liegt. Auf allen ist noch rote Farbe zu sehen, obwohl ich sie saubergemacht habe. »Leider hatte ich sie kurz im Flur abgelegt, weil ich auf die Toilette musste, und da ist der Hausmeister mit einem Farbeimer vorbeigegangen. Er ist gestolpert …«
Ich schaue meinen Vater an, um herauszufinden, ob er mir das abkauft. Er kommt ins Zimmer und nickt zerstreut. Ich glaube, er hört mir gar nicht richtig zu.
»Wie war denn diese Versammlung heute – hat das etwas gebracht? Es ging doch um Warnzeichen für einen möglichen Selbstmord, oder?« Mein Vater fährt sich mit der Hand durchs Haar.
»Genau«, sage ich, obwohl ich gar nicht die ganze Zeit dabei war.
Er lässt sich schwer auf mein Bett fallen. »Hast du bei Sophie oder Amber solche Warnzeichen bemerkt?«
Seine Frage überrascht mich; ich versuche, mich an die Warnzeichen zu erinnern. Die Berater haben uns schon in der Mittelschule davon erzählt. Das Einzige, an das ich mich erinnere, ist das Verschenken persönlicher Gegenstände. Ich schaudere, als mir einfällt, dass sie mir das Armband für Mattie gegeben hat. Aber es war doch ein normales Geschenk, oder?
»Ich weiß nicht. Sie waren ja nicht
meine
Freundinnen.«
»Ich glaube, ich werde Dr. Moran anrufen. Mattie sollte mit jemandem sprechen. Mit jemandem, der sich in solchen Dingen auskennt.«
Es ärgert mich, als er meine alte Psychotherapeutin erwähnt. Sie ist die kalte, unsympathische Frau, zu der mich mein Vater geschickt hat, nachdem ich ihm vom Wandern erzählt hatte und er es für eine Lüge
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