Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Reisenden ein, und das änderte seine Sicht auf die Landschaft seiner Kindheit.
Als ich erneut die ersten Seiten von An einem hellen Morgen ging ich fort las, 20 Jahre nachdem ich das Buch in der Schule entdeckt hatte, fühlte ich mich so schwerelos, als würde ich in einer Hängematte liegen. Es stellte sich heraus, dass die Stimme, die mir mein Leben lang ins Ohr flüsterte und von den Verheißungen des langsamen Reisens kündete, schon immer Lee gehört hatte. Die Worte seines ersten Kapitels verwandelten sich in eine herzliche Umarmung, mit der man einen alten Freund an einem Sommerabend im Pub begrüßt.
Im Jahr 1930 verließ der 19-jährige Laurie Lee sein zu Hause in den Cotswolds und machte sich mit einem Zelt, einer Geige, ein paar Kleidern zum Wechseln, einer Dose Melassekekse und etwas Käse zu Fuß auf den Weg. Er wanderte hinunter nach Southampton, um zum ersten Mal das Meer zu sehen, bevor er nach London ging, wo er sich ein Jahr lang als Hilfsarbeiter verdingte. Dann begann er, durch Spanien zu reisen. Dreißig Jahre später beschrieb er in seinen Erinnerungen, wie er am ersten Tag seiner Reise sein zu Hause verlassen hatte:
Ich bin mir darüber bewusst, dass ich das Glück hatte, mich zu einer Zeit auf den Weg zu machen, als die Landschaft noch nicht für Schnellstraßen planiert worden war. Viele Landstraßen verliefen noch immer auf den ursprünglichen Pfaden, die von Packpferden oderrumpelnden Wagenrädern gebahnt worden waren und sich an einem Tal entlang oder um ein Vorgebirge herumzogen wie der gewundene Lauf eines Flusses. Das ist alles noch gar nicht so lange her, doch heutzutage könnte man eine solche Reise nicht mehr machen. Die meisten alten Straßen sind verschwunden, und seither ist die Landschaft durch den Autoverkehr in Stücke zerteilt worden, durch die der Reisende geduckt auf Höhe des Rinnsteins eilt und weniger sehen kann als ein Hund in einem Straßengraben.
Natürlich ist die Welt heute noch mehr dazu gezwungen, Zugeständnisse zu machen, um höhere Geschwindigkeit und Effizienz zu gewährleisten. In Southampton nahm Lee all seinen Mut zusammen und fing an, mit seiner Geige Straßenmusik zu machen, und bald hatte er genug Geld zusammen, um weiterziehen zu können und keinen festen Job mehr annehmen zu müssen. Ich musste lachen, als ich las, wie er auf seiner Wanderung entlang der Küste kurz in Chichester haltmachte, um vor der Kathedrale »Bless this House« anzustimmen, woraufhin ihn die Polizei sofort verscheuchte. Das würde heute sicherlich ganz genauso ablaufen.
Nicht nur Lee ist der Ansicht, dass das Reisen untrennbar damit verbunden ist, sich Zeit zu lassen. So schreibt beispielsweise Paul Theroux in Der alte Patagonien-Express über das Fliegen: »Ein guter Flug wird durch Negative definiert: Man wurde nicht entführt, man ist nicht abgestürzt, man hat sich nicht übergeben, hatte keine Verspätung, fand das Essen nicht ekelerregend. Also ist man dankbar.« In Ghost Train to the Eastern Star bezeichnet sich Theroux sogar selbst als »müßiger Reisender«. In Was mache ich hier ist Bruce Chatwin davon überzeugt, dass die Geschwindigkeit, mit der man reist, das Erlebnis maßgeblich prägt: »Wandernist eine Tugend, Tourismus eine Todsünde.« Patrick Leigh Fermor, der als Jugendlicher eine abenteuerliche Wanderung durch Osteuropa machte, schreibt in Die Zeit der Gaben : »Pferdestärken korrumpieren einen immer«, und es gibt noch viele andere, auf die wir später zurückkommen werden.
Vor ein paar hundert Jahren hatte man keine Wahl, man musste sich langsam entlang den Konturen und Verläufen des Landes und der See bewegen; darin bestand die eigentliche Definition des Reisens. Die damit verbundenen Mühen machten jene, die sich auf ausgedehnte Reisen begaben, nach ihrer Rückkehr zu Helden, die von ihren sesshaften Mitmenschen als außergewöhnliche Männer und Frauen angesehen wurden.
1749 beschrieb Thomas Nugent, der einen Reiseführer über die Sehenswürdigkeiten geschrieben hat, die man auf einer Kavalierstour besichtigen sollte (mehr dazu später), das Reisen als »einziges Mittel, um den Verstand zu schulen und sich hohes Ansehen zu verschaffen«.
Er fährt fort: »Die ersten zivilisierten Nationen … verliehen sogar jenen, die nur kurze Reisen unternahmen …, die Titel von Philosophen und Eroberern.« Er geht der Abstammung von Menschen nach, die auf die Suche nach Erkenntnis gingen und die er als Weise beschreibt, bis hin zu den Argonauten und
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