Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
ihren Ausmaßen nur schwer zu begreifen, und man kann sich kaum vorstellen, wie es unser Leben verändern würde, wenn wir auf diese Weise über die Zeit dächten.
Sie belegt allerdings, dass der Einfluss, den die Sprachedarauf hat, wie wir die Welt wahrnehmen, weitreichender ist, als wir denken. Wir sind abhängig von den Vorstellungen, die unsere Sprache ausdrücken kann. Deshalb ist es für uns alle ein so großer Verlust, wenn eine Sprache ausstirbt, denn mit ihr verschwinden auch all die Begriffe, die sie enthält und die in unserer eigenen Sprache fehlen. Die Auswirkungen davon sind buchstäblich unvorstellbar. Dass diese Begriffe sich verbreiten können, die unser aller Leben und unser Bewusstsein von der Welt, in der wir leben, bereichern, verdanken wir natürlich dem Reisen.
Als ich zu erkennen begann, welche Ausmaße die Landschaft hatte, die ich noch nie erkundet hatte, obwohl sie die ganze Zeit direkt vor meiner Nase lag, wurde mir klar, dass dasselbe auch für alle möglichen Begriffe gilt. Stellen Sie sich vor, wie viele Ideen und Vorstellungen von der Welt unser Verstand intuitiv erfassen könnte, die uns aber verschlossen bleiben, weil unsere eigene Sprache zu beschränkt ist. Die Sprache, die wir verwenden, um unser eigenes Bewusstsein zu erforschen, wird zu einer Straße, die uns durch unsere vertraute Umgebung leitet. Einerseits bietet sie uns einen bewährten und zuverlässigen Wegweiser für unsere bewusste Wahrnehmung der Welt, andererseits verhindert sie, dass wir unsere Umgebung neu erleben können, und versagt uns unzählige andere Möglichkeiten, das Leben zu betrachten und zu erfahren. Doch der müßige Reisende hat die Zeit, so etwas zu bemerken und darüber nachzudenken, weil er oder sie ausgetretene Pfade meidet – die naheliegenden Vorstellungen und Begriffe –, während diejenigen, die die Welt in Eile konsumieren, sich auf das Bekannte und Zweckmäßige beschränken müssen.
Auf dem nächsten Stück Weg begegnete ich vielen anderen Wanderern; innerhalb von fünf Minuten hatte ich mehr Menschen gesehen als den ganzen Tag über. Die meisten waren mit dem Auto gekommen, Kinder und kläffende Hunde rannten um sie herum, doch ab und an bemerkte ich einen Wanderer, der wie ich die Umgebung in sich aufsog. Ein Mann in einem blauen Trainingsanzug humpelte mit einem grantigen Gesicht herum, er ging auf den Außenseiten seiner Füße wie ein Chaplin-Imitator. Seine Wanderkarte in einer Plastikhülle schlug ihm gegen den Hintern, während er sich unter Schmerzen vorwärtsschleppte, sicherlich hatte er Blasen an den Füßen, und er flüsterte mir ein höfliches »Guten Tag« zu, weil ich ihn zu lange angestarrt hatte.
Ich hatte meine Sonnenbrille aufgesetzt und kam mir vor wie ein Eroberer in Bedrängnis. Ich hatte meinen Proviant fast aufgegessen, und mein Wasser war nahezu aufgebraucht, mein Rucksack war also leicht, und ich sprang über den grasüberwachsenen Pfad, um den Schlammlöchern auszuweichen. Es kam mir vor, als sei ich sehr weit weg von zu Hause. Der aufkommende Wind ließ mich spüren, dass es bereits November und Nachmittag war, aber mein zusätzlicher Pullover hielt mich warm. Dann bog der Pfad in den Wald ein, und die Aussicht entzog sich meinem Blick.
Zwischen dem Waldgebiet, das ich nicht betreten durfte, und privaten Grundstücken auf der anderen Seite führte der Pfad mich auf und ab und um einen Hügel herum wie die Ablaufrinne eines Schwimmbeckens. Schließlich spie er mich an einem riesigen grasbewachsenen Erdwall aus, und obwohl ich bereits die ersten Blasen an meinen Füßen zu spüren begann und die Sonne schon am Untergehen war, musste ich anhalten, um ihn zu erklimmen. Es handelte sich um eines der vielen Hügelgräber aus der Bronzezeit, die im ganzen Land zu finden sind und so gebaut wurden, dass sieam Tag der Sonnenwende auf gleicher Höhe mit dem Sonnenuntergang liegen, und ich hatte nicht gewusst, dass es überhaupt existierte. Das erste war längst nicht das größte, also kletterte ich auf alle fünf und ließ mich dann auf dem höchsten nieder.
Diese Hügelgräber sind zwischen 3000 und 4000 Jahre alt und so etwas wie unsere hiesigen Pyramiden, sie sind etwa zur gleichen Zeit entstanden wie Stonehenge. Britische Schulkinder wissen mehr über die Begräbnisrituale ägyptischer Pharaonen als über unsere eigenen alten Fürsten und Könige, die hier in aller Stille ruhen und auf die nur ein verwittertes, gut gemeintes, ziemlich ramponiertes Schild
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