Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Maschinen, von dem Auto, dem Telephon, dem Radio, dem Flugzeug auf den Menschen übertragen, Zeit und Alter hatten ein anderes Maß. … Eile galt nicht nur als unfein, sie war in der Tat überflüssig …
Wilfs Kopf rutschte von meinem Arm und blieb in meinem Schoß liegen, als wir durch die belgische Landschaft eilten, und Zweig fuhr fort zu beschreiben, wie die Wiener gewohnheitsmäßig die großen globalen und politischen Ereignisse in den Tageszeitungen ignorierten und sich stattdessen den Artikeln über Theateraufführungen, Konzerte und Ausstellungen großartiger neuer Kunstwerke widmeten. Nicht deshalb, weil sie dem Weltgeschehen gegenüber gleichgültig waren, sondern weil sie ein tiefes Verständnis und eine Liebe zur Kultur hegten und in einer »windstillen Epoche« lebten, wie Zweig es im Rückblick nennt. Er schreibt: »… dazwischen lebte man behaglich und streichelte seine kleinen Sorgen wie gute, gehorsame Haustiere, vor denen man sich im Grunde nicht fürchtete« – und in diesem Satz lässt sich der Gemütszustand eines Mannes ausmachen, der sich an eineZeit erinnert, in der Europa noch nicht für Generationen zum Kriegsschauplatz geworden war.
Dank Zweigs Erinnerungen hatte ich einen emotionalen Reiseführer für seine Geburtsstadt, doch es war Carl E. Schorskes Werk Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle , das mir die Hintergründe erschloss. 1897 inspirierte die Art-nouveau-Bewegung eine Gruppe Wiener Künstler und Architekten dazu, die Wiener Secession zu gründen. Sie waren entschlossen, die Stimme und den Fokus der Kunst von der Last der Vergangenheit zu befreien und zu erneuern. Der erste Präsident der Gruppe war Gustav Klimt, und zu ihren Mitgliedern gehörten Egon Schiele, Joseph Maria Olbrich und Josef Hoffmann. Die Moderne beschränkte sich nicht nur auf Architektur, Malerei und Skulptur. Freuds Traumdeutung , die 1899 erschien, war Teil einer umfassenderen Debatte über die Natur des Menschen. Der »rationale Mensch« hatte die Natur besiegt, über die er die moralische Kontrolle zu haben glaubte, indem er die Gesetze der Wissenschaft erforscht und sie sich zunutze gemacht hatte. In seiner umfassenden Studie über das Wien dieser Epoche schreibt Schorske: »In unserem Jahrhundert hatte der Mensch der Ratio seinen Platz jenem reicheren, aber auch gefährlicheren und schwankenden Geschöpf, dem homo psychologicus, zu räumen. Dieser neue Mensch ist kein vernünftiges Wesen allein, sondern auch ein fühlendes und instinktgeleitetes.«
Da sie in einer konstitutionellen Monarchie und in einer aristokratisch geprägten Gesellschaft lebten, in der die Jugend keine Stimme hatte, blieben Zweig und seinen Zeitgenossen kaum Möglichkeiten, ihre Enttäuschung über die Politik zu äußern, weshalb sie ihre leidenschaftlichen Gefühlein Musik, Literatur und Kunst ausdrückten. Deshalb wurde die Kunst in Zweigs Generation zum übergeordneten Ziel und zum ultimativen Ausdruck eines zivilisierten Daseins.
Nachdem ich diese beiden Bücher gelesen hatte, bekam ich einen Eindruck von den Hoffnungen und den Tragödien, über die diese Männer schreiben, als ich einige Tage später die Ringstraße in Wien entlanglief. Die großartige Architektur dieser Stadt, die den jungen Adolf Hitler geprägt hatte, war beeindruckend, und als Tourist hätte ich an dieser Stelle über mein sprachloses Staunen geschrieben und darin den Ausdruck eines grandiosen Selbstvertrauens gesehen. Doch dank meiner »Reiseführer« blieb ich nicht auf die Touristengewohnheit beschränkt, alles für bare Münze zu nehmen. Mit Zweig, Schorske und den Secessionisten im Kopf konnte ich nachempfinden, dass diese Bauten zur Zeit ihrer Fertigstellung einschüchternd und deplatziert gewirkt haben mussten. Der große Bebauungsplan sollte eine Stadt erneuern, die nicht wusste, wohin sie ging, und daher Trost in der klassischen Architektur der Vergangenheit suchte. Die Kritik der Secessionisten leuchtet einem Fußgänger ein, der sich zwischen den ausladenden, unpersönlichen Bauten bewegt, die sich an den mächtigen Prachtstraßen entlangziehen und – wie in Paris – so gestaltet sind, dass sie dem Militär die Niederschlagung von Volksaufständen erleichtern.
In Wirklichkeit begann die tragische politische Zukunft Wiens sich bereits abzuzeichnen, als der Antisemit Karl Lueger 1897 Bürgermeister wurde. Luegers erfolgreiche politische Kampagne, in der er den Enthusiasmus der Mittelklasse (und der jüdischen
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