Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
auch unseren Spind enthielt. Ich gab meine kleine achteckige Marke dem Mann in dem nächsten Büdchen, er trug einen weißen Kittel, weiße Shorts, weiße Socken und gelbe Flip-Flops. Er gestikulierte wild, wohl um anzudeuten, dass es unklug sei, sich seine Nummer nicht zumerken. Wir hatten einen ziemlich konfusen Wortwechsel, weil die Nummer auf meiner Marke nicht der von unserer Umkleidekabine entsprach, doch schließlich bekam ich heraus, dass dahinter die Absicht stand, potenzielle Diebe zu verwirren. Er schien recht aufgebracht zu sein, doch ich beachtete es nicht weiter.
Wir betraten das grün gekachelte Gebäude und schauten uns nach dem Freibad um, in dem alte Männer von Dampf umhüllt Schach spielten. Es dauerte nicht lange, bis auch andere Leute mich wütend anstarrten, doch ich wusste immer noch nicht, warum. Nachdem wir etwas durchquert hatten, was wie ein baufälliges Gewächshaus aussah, kamen wir nach draußen – nur in unseren Badehosen, bei minus zwei Grad Celsius. Es schien das Vernünftigste zu sein, so schnell wie möglich in das Schwimmbecken mit den Schachspielern zu steigen, doch auf dem Weg dorthin – die Fliesen unter meinen Füßen waren so eisig, dass es wehtat – bemerkte ich, wie kalt es war. Ich hielt Wilf eng an mich gepresst und stieg langsam in das Becken. Nach leichtem Zittern und Zaudern erinnerte ich mich daran, dass ich der Erwachsene war, und wir sprangen hinein. Dabei lösten wir eine große Welle aus, die das Schachspiel zweier Männer in einigen Metern Entfernung ruinierte. Als ich es bemerkte, begann ich die allgemein gültigen Entschuldigungsgrimassen zu vollführen. Wilf begann zu schreien, weil das Wasser zu heiß war. Also kletterten wir wieder heraus und bemerkten erst dann, wie kalt es tatsächlich war. Er weinte Gott sei Dank nicht –wahrscheinlich waren seine Tränendrüsen eingefroren –, aber er zitterte am ganzen Körper, und seine Lippen waren blau. Eine Gruppe alter Damen fing an, mich anzuschreien, sie wollten vermutlich wissen, wo zum Teufel seine Mutter war.
Wir hatten es beinahe zurück in das dampfende warme Gebäude geschafft, als wir von einem Mann in einem weißenKittel, weißen Shorts, weißen Socken und grünen Flip-Flops angesprochen wurden, der augenscheinlich wissen wollte, warum wir das Badehaus barfuß betreten hatten. Fußwarzen scheinen international geächtet zu sein.
Nachdem ich eine weitere wortlose Entschuldigung übermittelt hatte, entdeckten wir im Inneren ein großes grünes Schwimmbecken, in dessen wirbelndem Wasser eigenartige blaue, hantelförmige Schwimmelemente herumtrieben. Wir drehten ein paar Runden, bis ich das Gefühl hatte, dass das Erlebnis kein völliges Desaster mehr war. Anschließend ging ich zurück zu dem Büdchen und erinnerte mich glücklicherweise an unsere Nummer, so dass wir unsere Kleider zurückbekamen, doch ich stellte fest, dass es keine Handtücher gab. Ich musste den zitternden Wilf an eine Heizung neben der Umkleidekabine stellen und uns beide mit meinem Hemd und meinem T-Shirt abtrocknen. Beim Hinausgehen kam ein anderer Mann aus einem anderen Büdchen, gab mir etwas Geld zurück und rief mir etwas zu, was ich ebenfalls nicht verstand.
An nächsten Tag fuhren wir wieder zum Bahnhof, um den Neun-Uhr-Zug nach Prag zu erreichen, die Fahrt würde sieben Stunden dauern. Glücklicherweise war es warm im Zug, und da es der Nachtzug nach Berlin auf seiner Rückfahrt war, hatten wir ihn ganz für uns allein. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, eine siebenstündige Zugfahrt mit einem Dreijährigen könnte nicht etwas anstrengend werden, aber langsames Reisen bedeutet ja, dass man über Unbequemlichkeiten hinwegsieht und alles auf etwas andere Weise betrachtet.
Damals machte Wilf noch einen zweistündigenMittagsschlaf, also legte ich es darauf an, ihn müde zu machen, damit ich etwas Zeit für meinen nächsten Reiseführer hatte, es handelte sich dabei um John Keanes Buch über Václav Havel. Sie wären überrascht, was man alles tun kann, um ein kleines Kind zu unterhalten, wenn man dazu einen völlig leeren Zug zur Verfügung hat. Ich habe in meinem Leben buchstäblich Hunderte von Pfund für scheußliche kindgerechte Attraktionen ausgegeben, und keine hat Wilf mehr erfreut oder zum Lachen gebracht als unser Spiel in diesem Zug. Ich dachte mir für jeden Waggon etwas aus, was man tun musste, wenn man ihn erreichte, und so gingen wir durch den ganzen Zug. Der Waggon direkt hinter uns war der
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