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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Kieran
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so Imposantes wie die Ringstraße gehabt hatten, gegen das sie revoltieren konnten. Ich verließ Wien jedenfalls mit einem neuen Verständnis für alte Ideen, und das stellt zumindest für mich einen Zweck des Reisens dar.

    An einem Samstagmorgen nahmen wir den Zug nach Belgrad, der über Budapest fuhr. Aus irgendeinem Grund hatte ich eine bange Vorahnung. Je tiefer man in den Osten Europas kommt, desto weniger prätentiös und umso zivilisierter werden die Züge – die stolzen Kellner in ihren Anzügen, die man überall antrifft, lassen die Servicekräfte in britischen Zügen schäbig aussehen. Die Rückenlehnen der Sitze waren niedrig, so dass mehr Licht in den Waggon fallen und alte Damen einem zulächeln konnten, auch wenn sie sicherlich Wilf meinten. Während sich am Himmel ein Schneesturm zusammenbraute, zeigte ich ihm zwei Hasen, die durch ein Feld neben der Bahntrasse liefen. Bald war die karge braune Landschaft ganz von Schnee bedeckt, doch der Zug rollte weiter.
    Wir hielten an einem großen Bahnhof ohne Bahnsteig und warteten auf einen endlos langen Güterzug, der mit lauter identischen Containern beladen war, die vielleicht dazu bestimmt waren, in den Ausbeuterbetrieben des Ostens mit Frachtgut befüllt zu werden. Wenn man langsam reist, erhascht man einen Blick hinter die Kulissen der einzelnen Nationen. Während wir warteten, brach die Sonne durch die dichten schwarzen Wolken und ließ die Schneeflocken glitzern; Windböen wirbelten den Pulverschnee auf dem Boden im Kreis herum. Dann patrouillierten zwei aggressiv wirkende Polizisten den Zug entlang, und ich dachte an die alarmierten Reaktionen meiner schneller reisenden Freunde: »Du nimmst einen Dreijährigen mit auf eine Zugfahrt durch Ungarn und Tschechien? Im Ernst?« Die Männer fingen an, die Mitreisenden zu befragen, und ich bemerkte, dass sie unter ihren gesteppten Warnwesten, die sie ordentlich in ihre Gürtel gesteckt hatten, Waffen trugen. Dann fuhr der Zug wieder an, und die Polizisten durchsuchten gemeinsam die Toilette – sie blieben eine ganze Weile dort.
    Dreijährige sind immens neugierig. Das liebe ich bei Kindern am meisten. Es ist, als wäre alles auf der Welt nur dazu da, damit sie Fragen stellen und es erforschen können, und natürlich stimmt das auch. Die Erwachsenen können solche einfachen Tatsachen nur nicht mehr erkennen. Es lohnt sich, mit einem Dreijährigen aus einem Zugfenster zu schauen und sich von ihm alles zeigen zu lassen anstatt umgekehrt. Auf der Strecke zwischen Wien und der ungarischen Grenze gibt es unzählige Windmühlen, und Wilf bestand darauf, sie »Mind Mills« (Geistesmühlen) zu nennen. Ich drängte ihn, es mir zu erklären, doch er winkte nur ab, holte Papier und Stifte heraus und begann die endlose Reihe von Verschlägen zu malen, in denen sich wahrscheinlich die Legebatterien von Hühnerfarmen befanden, die auf abgelegenen Feldernuntergebracht waren. Es hatte aufgehört zu schneien, und er hielt einen Moment inne und fragte: »Warum ist alles so braun?« Es war Februar und er hatte recht. Die Landschaft lag wie unter einem braunen Schleier. Grün war Braun, Rot war Braun, Gelb war Braun, was die leuchtend gelben und blauen Häuser ungemein hübsch aussehen ließ.
    Wenn man einmal mit einem Nachtzug gefahren ist, kommen einem alle anderen Zugfahrten im Vergleich dazu lächerlich kurz vor. Wir erreichten den Bahnhof von Budapest viel zu schnell und zogen Wollhandschuhe, Schals und Mützen an, bevor wir ausstiegen. Der müßige Reisende macht gelegentlich Fehler, und Budapest im Februar erwies sich als ein solcher. Einige Stunden später überquerten wir die Donau, der Wind war schneidend, und Wilf heulte, weil sein »Gesicht wehtat«. Also hielt ich ein Taxi an, und bald darauf machten wir es uns in unserem Hotelzimmer gemütlich, tranken heiße Schokolade und aßen Kalten Hund, während im Fernsehen eine ungarisch synchronisierte Folge von Thomas, die kleine Lokomotive lief.
    Ich dachte, es wäre wärmer geworden, als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg in das Széchenyi-Bad machten, das größte Thermalbad von Europa, das sogar eine eigene U-Bahn-Station hat. Die Temperatur lag bei zwei Grad unter null, aber wir würden dort sicherlich warme Handtücher und dicke Bademäntel bekommen. Ich bezahlte den Eintritt und betrat mit Wilf (Rachel war unterwegs, um Fotos für ihren Artikel zu machen) das dampfende Labyrinth. Wir zogen unsere Badehosen in einer der Umkleidekabinen an, die gleichzeitig

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