Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Bevölkerung) für Kunst, Kultur und Handel als Beweis dafür hinstellte, dass sie kein Verständnisfür die Bedürfnisse der Arbeiterklasse hätten, sollte später von Hitler übernommen werden.
Je mehr sich das Bürgertum mit Kultur beschäftigte, desto mehr politische Macht ging ihm verloren, und die Beunruhigung über die Massendemonstrationen tschechischer und slawischer Nationalisten, der Sozialisten und der antisemitischen Christlich-Sozialen Partei nahm zu. Auf einmal wurde mir Zweigs Abgesang auf Wien im Kontext seiner eigenen tragischen Rückschau – und letztlich auch sein Selbstmord – verständlich.
Wir wichen den Touristen aus, die in verschnörkelten Zweispännern herumgefahren wurden, und fanden einige der Cafés in der Innenstadt, in denen Zweig und seine Zeitgenossen gesessen und sich unterhalten hatten. Die meisten waren mittlerweile ziemlich touristisch, doch für einen Dreijährigen, der die bunt dekorierten Torten anstaunt, stellt das kein Problem dar. Klimts Gemälde »Der Kuss« befindet sich heute in einem Schloss im Süden der Stadt, dem Belvedere, das einst dem Erzherzog Franz Ferdinand gehörte, dessen Ermordung den Ersten Weltkrieg ausgelöst hatte. Wir gingen zu Fuß dorthin und schlenderten ziellos durch die prachtvollen Gartenanlagen, damit Wilf vorsichtig auf den von Hecken gesäumten Mauern balancieren konnte, bis er sich angriffslustig auf einen Taubenschwarm stürzte. Schließlich erreichten wir das Museum, und die Gemälde von Schiele und Klimt wirkten fehl am Platz in einem der Gebäude, gegen die die Künstler mit ihrer Arbeit protestiert hatten.
Ich will nicht behaupten, dass ich in diesen vier Tagen zu einem Wien-Experten geworden bin oder dass ich eine mystische Wahrheit entdeckt hätte, die mir ein Reiseführer nicht hätte enthüllen können. Ich will nur sagen, dass die beiden Bücher, die ich ausgewählt hatte, um mir einen Einblick indie Geschichte der Stadt zu verschaffen, es mir ermöglichten, sie durch mein eigenes Interesse und meine Neugier zu erschließen. Die einzige typische Sehenswürdigkeit, die wir uns ansahen, war Klimts »Kuss«. Wir hätten ein Vermögen für Opernkarten ausgeben können oder uns durch die sicherlich fantastischen Museen schleppen können, um das Wesen dieser Stadt zu erfassen, doch stattdessen machten wir eine Tour über die vielen Spielplätze, die Wilf uns aufgeregt aus dem Straßenbahnfenster zeigte, ließen uns treiben und von den Worten meiner beiden Stadtführer leiten. Keine Schuldgefühle, kein Versuch, möglichst viel aus unserem Aufenthalt herauszuholen – nur ein paar Tage, in denen wir uns umsahen und Bücher lasen, wenn Wilf eingeschlafen war.
Im Rückblick klingen meine Schlussfolgerungen vermutlich allzu simpel, aber ich habe einen klaren räumlichen Eindruck von Wien gewonnen. Ich erinnere mich gern daran, wie Wilf sich gegen das Fenster des Café Central lehnte und die exotischen Torten anstarrte, und wenn ich an Wien denke, denke ich nicht an seine tragische Geschichte oder seine verloren gegangene kulturelle Bedeutung. Oder an irgendein Museum, durch das ich mich aus falschem Pflichtgefühl geschleppt habe. Ich sehe den jungen Zweig vor mir, der für das ungenierte künstlerische Streben nach Humanität steht, und freue mich darüber, dass er mich durch die Stadt begleitet hat, in der er geboren wurde und die er liebte. Dadurch bekam auch Zweigs leidenschaftliches Plädoyer für den Wert des wahren Reisens den richtigen Kontext. Er wusste, was es heißt, seine Heimat zu verlieren, die für alle Reisende der Anker ist, auf den sie sich verlassen.
Für die Secessionisten war der moderne Mensch jemand, der »dazu verdammt war, sich sein eigenes Universum wieder neu zu erschaffen«, und dazu war Zweig ganz -offensichtlich gezwungen. Dadurch wird die Vorstellung, dass sich das Reisen, wie das Lesen, grundsätzlich im Kopf abspielt, weiter untermauert. Meine beiden Reiseführer hatten außerdem noch etwas für sich. Indem ich das Konzept der Moderne und den Namen Sigmund Freud mit einem Ort wie dem Wien des Fin de Siècle zusammenbringen konnte, verstand ich auf einmal Dinge, die ich zuvor meist übersehen und nur ansatzweise begriffen hatte. Durch diese Straßen mit ihren unzugänglichen Bauten zu gehen brachte mir vor Augen, wie nötig die Moderne gewesen war, wie es keine Fernsehsendung, keine Schulstunde und kein Buch mir hätten vermitteln können. Ich beneidete die Secessionisten beinahe dafür, dass sie etwas
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