Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
»Tanzwaggon«, und wir verbrachten eine ganze Weile darin. Eines der besten Dinge, die einem Dreijährigen, oder auch einem 33-Jährigen, passieren können, besteht darin, dass der 33-Jährige ohne ersichtlichen Grund anfängt zu tanzen. Ich habe keine Fotos davon, wie wir drei in dem Waggon herumsprangen, aber ich brauche sie auch gar nicht.
Danach kamen wir zum »Kopf-nach-unten-Waggon«, in dem kleine Kinder die ganze Zeit mit dem Kopf nach unten hängen mussten – Wilf liebte ihn besonders. Anschließend kamen der »Chips-und-Süßes-essen-Waggon« und der »Papa-schläft-ein-Waggon«, aber wir mussten ständig zurück in den »Tanzwaggon« und den »Vom-Sitz-springen-Waggon«. Als mir die Ideen ausgingen, war Wilf erschöpft, und ich schaute aus dem Fenster, während er in meinem Schoß einschlief.
Mein Reiseführer war als Biografie von Václav Havel ausgewiesen, tatsächlich war er jedoch viel mehr. Havels Lebensgeschichte begann in einer unabhängigen Republik. Als kleiner Junge erlebte er die deutsche Besatzung, bevor er 40 Jahre lang die totalitäre Herrschaft der Kommunisten erdulden musste. Doch dieser »moderne Mensch«, ein Autor undDramatiker, nutzte seine Persönlichkeit und seine Kreativität auf eine Weise, von der Zweig und seine Zeitgenossen nur träumen konnten, um zur Galionsfigur der samtenen Revolution von 1989 und zum Präsidenten der neuen Tschechischen Republik zu werden.
Bis ich Keanes Buch las, hatte ich geglaubt, ich sei so gut über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs und die Taten der Nazis informiert, dass es für mich kaum mehr etwas geben könnte, das ich noch nicht wusste und das mich noch schockieren würde. Doch mein Reiseführer sollte mich eines Besseren belehren.
Havel kam 1936 in einer wohlhabenden Familie zur Welt. Er beschrieb sich selbst in seinen ersten Jahren als »verhätscheltes Kind der Bourgeoisie«, und man setzte viele Erwartungen in ihn. Doch 18 Monate später annektierte Hitler Österreich, und die Westmächte ließen ihn gewähren, in der Annahme, dass der »Führer« nur an der Wiedervereinigung deutschsprachiger Länder interessiert sei. Am 15. September 1938 hatte der britische Premierminister Neville Chamberlain eine Unterredung mit Hitler, der forderte, dass das Sudetenland von der Tschechoslowakei abgetrennt und Deutschland zugeschlagen werden sollte. Chamberlain entgegnete, er würde diese Forderung sorgfältig überdenken, doch am 23. September handelte Hitler und verkündete sowohl die Annektierung als auch die Evakuierung nicht-deutscher Bürger aus dem Sudetenland innerhalb einer Frist von fünf Tagen.
Als Havel fünf Jahre alt war, wurde Reinhard Heydrich als stellvertretender Reichsprotektor nach Prag entsandt, um das Kriegsrecht anzuwenden und der milden Behandlung, die die Tschechen in Hitlers Augen bislang erfahren hatten, ein Ende zu setzen. Hitler sagte über Heydrich, er habe ein »Herz aus Eisen«. Sobald Heydrich in Prag angekommenwar, begann die Gestapo damit, Massenverhaftungen und standrechtliche Exekutionen vorzunehmen, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Intellektuelle wurden angegriffen, Universitäten geschlossen, Studenten verhaftet und erschossen. Keane schreibt: »Die Essenz der totalitären Macht war der Terror – eine Angst, die Seele und Körper zerstörte, weil man annehmen musste, dass Tod und Zerstörung … hinter jeder Ecke lauerten.« Die Massaker an Juden und Roma hatten begonnen, sie kamen in Konzentrationslager oder wurden im Wald in Massengräbern verscharrt.
Die Tschechen befürchteten, sie könnten die Nächsten sein, doch Heydrich hatte etwas anderes mit ihnen vor. Während diejenigen, die nicht dem deutschen Ideal entsprachen oder unerwünscht waren, tatsächlich liquidiert wurden, sollte der Rest zu Deutschen werden. 1941 hielt Hitler eine Rede, in der er darlegte, wie die Auslöschung dieser Nation vonstattengehen sollte. Innerhalb von 20 Jahren sollte die tschechische Sprache auf »einen Dialekt reduziert« werden. Er wollte ihre Nationalität vernichten, indem er ihre Sprache zerstörte, und Heydrich, der später als der »Schlächter von Prag« bezeichnet wurde, war der richtige Mann dafür.
Ich starrte aus dem Fenster, um diesen Gedanken zu verdauen. Wir waren mittlerweile in der Slowakei und fuhren durch Waldgebiet; ich sah kleine Gruppen von Männern, vermutlich Landstreicher, die sich an Feuern neben der Bahntrasse wärmten. Wilf schnarchte in meinem Schoß, und Rachel hatte sich auf einer
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