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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Hände unter dem Kinn zusammen und lächelte.
    Dr. Stäubli kam jeden Tag, untersuchte ihn und redete ihm gut zu. »Essen Sie wieder, Herr Lang, stehen Sie auf, bewegen Sie sich. Wenn Sie sich nicht selbst gesund machen, kann ich es auch nicht.« Elvira, der er nach jeder Visite bei Konrad Bericht erstatten mußte, erklärte er: »Wenn er überlebt, dann um einen hohen Preis. Das ist typisch bei Alzheimer, das geht in Stufen. Entweder in vielen kleinen. Oder, wie bei ihm, in wenigen großen.«
    »Sagt er etwas?« wollte sie jedes Mal wissen. Wenn er verneinte, schien sie erleichtert.
    Auch Simone fragte sie: »Sagt er etwas? Redet ihr miteinander?«
    Simone schüttelte den Kopf. »Vielleicht solltest du ihn einmal besuchen. Du könntest versuchen, mit ihm über die Vergangenheit zu sprechen. Ich weiß nichts darüber.«
    »Die Vergangenheit ist Vergangenheit«, sagte Elvira.
    »Nicht bei dieser Krankheit«, antwortete Simone.
    Vielleicht wäre Konrad Lang gestorben, wenn Schwester Ranjah nicht gewesen wäre. Wenn die Diätköchin nach einem weiteren erfolglosen Versuch, ihn mit einem seiner Lieblingsmenüs zu locken, entnervt aufgegeben hatte, begann sie ihn heimlich mit kleinen Leckerbissen zu füttern, die sie von zu Hause mitbrachte: in Honig eingelegte Mandeln, scharfe Reisbällchen mit Koriander, kleine Stücke kalten, gerösteten Rindfleischs mit Zitrone und Zwiebeln – alles von ihren langen, schmalen Fingern direkt in seinen Mund gesteckt. Dazu plapperte sie mit ihm in einem Kauderwelsch aus Tamil, Singhalesisch und Englisch und herzte und küßte ihn wie einen Säugling.
    Schwester Ranjah erzählte niemandem von ihren Therapieerfolgen. Sie hatte in früheren Fällen oft schlechte Erfahrungen gemacht, weil ihre Methoden fast immer gegen den Buchstaben hiesiger Spitalordnungen verstießen.
    So war es auch reiner Zufall, daß Simone davon erfuhr. Sie hatte einen Tag voller Verpflichtungen hinter sich und konnte Konrad ausnahmsweise erst besuchen, als es schon dunkel war. Als sie das Gästehaus betrat, hörte sie das Geplapper aus Konrads Schlafzimmer. Sie öffnete leise die Tür und sah, wie Schwester Ranjah den glücklichen Konrad fütterte.
    Als Konrad sie sah und erschrak, strich ihm Ranjah über das Haar und sagte: »Don’t worry, Mama Anna is not here.«
    Dann erst sah sie, daß Simone in der Tür stand.
    »Wer ist Mama Anna?« fragte Simone Urs noch am gleichen Abend. »Es ist jemand, vor dem sich Konrad fürchtet.«
    Urs hatte keine Ahnung.
    Ihr Schwiegervater half weiter. »Seine Mutter hieß Anna. Aber warum sollte er sich vor ihr fürchten?«
    »Hatte sie ihn nicht als Kind zu einem Bauern abgeschoben?«
    »Deswegen kann man jemanden hassen. Aber fürchten?«
    »Vielleicht wissen wir nicht alles.«
    Thomas Koch zuckte die Schultern, stand auf und entschuldigte sich. Ein alternder Playboy zwischen zwei Ehen.
    Simone konnte nicht schlafen. Mitten in der Nacht kam ihr eine Idee. Sie stand auf, ging hinunter in die Halle und wartete, bis ihr Schwiegervater nach Hause kam. Als er endlich mit glasigen Augen hereinpolterte, war sie im Sessel eingeschlafen. Sie schreckte auf und fragte: »Hatte sie rote Haare?«
    »Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n«, sang er.
    »Konrads Mutter, meine ich.«
    Thomas brauchte einen Moment, bis er ihr folgen konnte. Dann lachte er. »Rot wie der Teufel.«
    »Fotos von früher? Ich habe keine Fotos von früher. Darauf sieht man nur, wie alt man ist.« Elvira saß in ihrem Frühstückszimmer und gab Simone zu verstehen, daß sie störte. »Wozu brauchst du sie?«
    »Ich will sie Konrad zeigen. Manchmal kann man damit einen Alzheimerpatienten aus seiner Apathie holen.«
    »Ich habe keine.«
    »Jeder hat irgendwelche Fotos von früher.«
    »Ich habe keine.«
    Simone gab auf. »Kannst du dir vorstellen, weshalb er sich vor seiner Mutter fürchtet?«
    »Vielleicht, weil nichts Rechtes aus ihm geworden ist«, lächelte Elvira.
    »Was war sie für eine Frau?«
    »Die Art Frau, die ihr Kind vor einem Nazidiplomaten versteckt, damit er sie heiratet.«
    »Aber sie war einmal deine beste Freundin.«
    »Anna ist schon lange tot, ich will nicht über sie reden.«
    »Wie ist sie gestorben?«
    »Bei einem Luftangriff auf einen Zug, soviel ich weiß.«
    »Und sie hatte rote Haare.«
    »Was spielt das für eine Rolle, was sie für Haare hatte?«
    »Konrad hatte Angst vor der Aushilfsschwester. Und die hat rote Haare.«
    »Anna war blond.«
    »Thomas sagt, rot wie der

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