Small World (German Edition)
Teufel.«
»Thomas ist eben auch ein bißchen vergeßlich geworden.«
Montserrat war erst seit vier Wochen in der Villa beschäftigt. Sie war eine Nichte von Candelaria, die es immer wieder verstand, Mitglieder ihrer vielköpfigen Familie in Kochs Diensten unterzubringen. Montserrat war als Zimmermädchen eingestellt.
»Heute war die Señora im Büro des Don«, erzählte sie Candelaria beim Mittagessen. »Sie hat etwas in seinem Schreibtisch gesucht.«
»Hast du geklopft?«
»Ich dachte, es sei niemand da, weil ich gesehen habe, wie er weggegangen ist.«
»Man klopft immer.«
»Auch wenn man sicher ist, daß das Zimmer leer ist?«
»Auch wenn vom Haus nichts mehr steht außer der Tür.«
Montserrat war neunzehn und hatte noch viel zu lernen.
Urs war auch keine große Hilfe. Simone schnitt das Thema beim Mittagessen an, das er ausnahmsweise in der Villa einnahm.
»Weshalb brauchst du alte Fotos?« fragte er gereizt. Er ahnte, daß es wieder etwas mit ihrem Hobby Konrad Lang zu tun hatte.
»Die Fachleute empfehlen uns, daß wir mit ihm Fotos aus seiner Vergangenheit anschauen, als Anknüpfungspunkt an die Gegenwart. Aber so was scheint es in eurer Familie nicht zu geben.«
»Elvira hat Regale voller Fotoalben.«
»Sie gibt mir keine. Sie sagt, sie wisse nicht, wo sie sind.«
Er lachte ungläubig. »In ihrem Arbeitszimmer, in der Bücherwand. Jede Menge.«
Simone wartete bis drei Uhr nachmittags, die Zeit, in der Elvira gewöhnlich ihre Korrespondenz erledigte. Sie ging ins »Stöckli« und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers.
»Ja?« antwortete Elvira unwirsch. Simone hatte eines der Tabus des Hauses gebrochen. Wenn sich Elvira im Arbeitszimmer aufhielt, war sie für niemanden zu sprechen.
Simone trat ein. »Urs sagte, daß du deine Fotos hier aufbewahrst. Vielleicht kann ich mir ein paar ausleihen.«
Elvira nahm ihre Brille ab. »Man merkt, daß Urs schon lange nicht mehr hier war. Oder siehst du irgendwo Fotos?« Sie deutete auf das Büchergestell neben ihr.
Darauf standen ein paar Ordner, eine Reihe nach Jahrgängen geordneter Geschäftsberichte der Koch-Werke, ihrer Diversifikationen und anderer Unternehmen, ein achtzehnbändiges Lexikon und je ein gerahmtes Foto von Elvira mit ihrem ersten und ihrem zweiten Mann.
Kein einziges Foto sonst, kein einziges Fotoalbum.
»Vielleicht soll eben niemand sehen, wie sie immer jünger geworden ist«, lachte Thomas Koch, als Simone ihm davon erzählte.
Sie traf ihn in bester Laune. Er hatte sich soeben entschlossen, die Feiertage auf der »Why not?«, der Jacht der Barenboims, zu verbringen, die mit einer amüsanten Clique in der Karibik kreuzte. Er würde noch – ein ungeschriebenes Gesetz – Weihnachten in der Villa verbringen und am nächsten Morgen nach Curaçao fliegen und sich dort einschiffen. In Begleitung von Salomé Winter, dreiundzwanzig.
So war er denn auch sehr hilfsbereit und sofort einverstanden, Simone Fotos zur Verfügung zu stellen, »schachtelweise«, wenn sie wolle.
Doch als er zielsicher die Schublade mit den Fotos öffnete, war sie leer. Obwohl er hätte schwören können, daß sie dort waren.
Er nahm sich sogar etwas Zeit, an anderen möglichen Orten zu suchen. Die Fotos blieben unauffindbar.
Heiligabend wurde in der »Villa Rhododendron« im engsten Familienkreis gefeiert. In der Bibliothek stand ein großer Christbaum mit Schmuck, der noch aus Wilhelm Kochs erster Ehe stammte: durchsichtige Glaskugeln, die schillerten wie Seifenblasen, gläserne Eiszapfen und Engelchen mit Gesichtern wie Modepüppchen der Jahrhundertwende. Die Zweige waren mit roten Äpfeln an Seidenbändeln beschwert und mit Silberfäden und Engelhaar behängt. Alle Kerzen waren rot. Auf der Spitze des Baumes steckte ein goldener Engel, der mit ausgebreiteten Armen die Menschen segnete, die guten Willens sind.
Es gehörte zur Tradition, daß der älteste anwesende Mann aus der Weihnachtsgeschichte vorlas. Das war seit vielen Jahren Thomas Koch.
»Und der Engel des Herrn trat zu ihnen«, las er feierlich, »und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.«
Anschließend setzte sich Thomas ans Klavier und spielte sein eingerostetes Weihnachtspotpourri.
Elvira lauschte gerührt, Urs dachte an die fällige
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