Small World (German Edition)
lächelte. »Die ›Tesoro‹. Claudio Piedrini und sein Bruder Nunzio. Und…«
Er zerriß das Foto in kleine Fetzen und murmelte dazu: »Dieser Sauhund. Dieser Sauhund. Dieser verdammte Sauhund.«
Dann schloß er den Mund und öffnete ihn nicht mehr während des ganzen Besuches.
Als Simone später das Foto zusammenklebte, fiel ihr nichts Besonderes auf. Thomas hatte den Arm um ein Mädchen gelegt, wie auf allen anderen Fotos auch. Konrad fehlte.
Koni erwachte mitten in der Nacht und wußte, daß er Tomi haßte. Er wußte zwar nicht, warum, aber das Gefühl des Hasses erfüllte ihn völlig. Daß es sich gegen Tomi richtete, wußte er deshalb, weil er an alle Menschen in seinem Leben denken konnte – an Elvira, an Edgar Senn, ihren Mann, an Joseph Zellweger vom Zellweger-Hof und seine hagere Frau, an den Klavierlehrer Jacques Latour –, ohne daß er mehr als etwas Abneigung oder etwas Angst verspürte. Bei den Piedrinis war es schon etwas mehr als Abneigung, eher so was wie Abscheu, aber nichts im Vergleich zu Tomi.
Wenn er an Tomi dachte, setzte sein Herz für einen Moment aus, und er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoß und er nur noch einen Wunsch hatte: den Sauhund kaputtzumachen.
Er richtete sich auf und stieg aus dem Bett. Sofort ging die Tür auf, und aus dem hellen Spalt sang Schwester Ranjahs Stimme: »Mama Anna isn’t here.«
»I’ll kill the pig«, stieß Konrad hervor.
Schwester Ranjah machte das Licht an und erschrak über seinen Gesichtsausdruck. Sie ging auf ihn zu und legte den Arm um ihn.
»Which pig?«
Konrad überlegte. Which pig? Er wußte es nicht mehr.
Am nächsten Tag kam Simone wieder mit den Fotos. »Das war Silvester im Palace. 1959«, sagte er. Und: »Peter Court! Ich dachte, der ist verunglückt.« Und: »Ach, Serge Payot. Und Tomi, dieser Sauhund.«
»Warum ist Tomi ein Sauhund?« fragte Simone.
»Das wissen alle«, antwortete er.
Am nächsten Tag reiste Simone mit schlechtem Gewissen nach Bad Zürs, um mit Urs (»Erinnerst du dich? Ich bin’s, Urs, dein Mann!« hatte er ihr kürzlich zugerufen, als sie vom Gästehaus zurückgekommen war) Ski zu fahren und Silvester zu feiern. Sie gab Schwester Ranjah die Fotos, damit sie sie mit ihm anschauen konnte.
Als sie zurückkam, hatte seine Lethargie etwas anderem Platz gemacht.
Es kam ihr vor wie Wut.
Schwester Ranjah bestätigte diesen Eindruck. Sie erzählte, daß er unruhiger sei in der Nacht, daß er Alpträume habe, daß er manchmal erwache voller Haß.
»Dann werden wir ihm die Fotos nicht mehr zeigen«, sagte Simone.
Schwester Ranjah sah sie überrascht an: »Aber dann nehmen Sie ihm ja ein Gefühl weg.«
So zeigte Simone ihm die Fotos weiterhin.
»Was für Fotos?« wollte Elvira Senn wissen.
Dr. Stäubli hatte ihr bei seinem Bericht über Konrads Zustand in einem Nebensatz gesagt: »Er scheint weiter abzugleiten. Auf die Fotos reagiert er praktisch nicht mehr.«
Dr. Stäubli beschrieb ihr die Fotos, die Simone mit Konrad wieder und wieder angeschaut hatte. Zuerst mit einigem Erfolg, in letzter Zeit aber mit immer deutlicheren Anzeichen dafür, daß er sich nicht erinnern konnte.
»Und der Erfolg, wie hatte der sich geäußert?«
»Es hat ihn angeregt. Er kam ins Plaudern. Er brachte zwar die Zeiten durcheinander, aber das gehört zum Krankheitsbild.«
»Was hat er erzählt?«
»Von den Leuten auf den Fotos, von den Orten, wo sie aufgenommen wurden. Ganz erstaunlich zum Teil. Vierzig Jahre alte Fotos, immerhin.«
»Und jetzt reagiert er nicht mehr darauf?«
»Kaum mehr. Der Teil des Gehirns, in dem er diese Erinnerungen aufbewahrt, scheint jetzt auch betroffen zu sein.«
Dr. Stäubli hätte gerne gewußt, warum das Elvira zu beruhigen schien.
8
Etwas länger als ein Jahr nachdem der Schlittenkutscher Fausto Bertini ihn in einem Schneeloch im Stazerwald gefunden hatte, schien es, als ob Konrad Lang sich ganz in sich zurückziehen wollte. Die einzigen, die noch Zugang zu wenigstens einem Teil von ihm fanden, waren Schwester Ranjah, die er anstrahlte, sobald sie den Raum betrat, und mit der er konsequent und recht korrekt Englisch sprach, und Joseline Jobert, die Beschäftigungstherapeutin, für die er mit klaren, sparsamen Pinselstrichen seine Aquarelle malte.
Es war ein trostloser Januar, kaum ein Tag, an dem man bis zum See hinunter sah, kaum einer ohne den eintönigen, eiskalten Regen.
Simone befand sich in ihrer siebten Ehekrise. Urs hatte beim Skifahren Theresia Palmers, ein
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