Small World (German Edition)
von Joseline Jobert, der Beschäftigungstherapeutin, war etwas weniger ernüchternd. Konrad aquarellierte immer noch hingebungsvoll. Die Resultate wurden immer abstrakter, und die Orthographie der Legenden, mit denen er seine Bilder stets versah, hatte gelitten. Fast in jedem zweiten Wort kamen Wiederholungen von Buchstaben oder Silben vor, weil er vergaß, daß er sie schon geschrieben hatte. »EuEuropa«, schrieb er oder »Apfelelbaumaum«.
Nach wie vor summte er mit zu den Wander-, Weihnachts- und Studentenliedern, die sie ihm in gebrochenem Deutsch vorsang.
Aber auf die Fotos, die ihm Simone zeigte, reagierte er nur noch passiv. Er sagte nicht mehr: »Venedig«, »Mailand« oder: »Am Meer«, wenn sie ihn fragte, wo das gewesen sei. Er nickte höchstens, wenn sie vorschlug: »Ist das am Meer?« oder: »Ist das in Venedig?«
Sie konnte ihm aber auch das Foto vom Markusplatz zeigen und fragen: »Ist das in Paris?« Auch dann nickte er.
Thomas und sich konnte er nicht mehr unterscheiden. Er verwechselte sich und ihn oder nannte beide »Tomikoni« und »Konitomi«. Elvira Senn hingegen identifizierte er auf jedem Bild als »Mama Vira«.
Simone war deprimiert, als sie nach der letzten Fotositzung in ihr Zimmer kam und die Kopien auf den Tisch legte.
»Ich bin froh, daß es dir bessergeht«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Es war Thomas Koch. Er hatte auf dem Bettrand gesessen und stand jetzt auf. Simone sah ihn an und wartete.
»Die Schwester hat mich hereingelassen. Hat sich wohl erinnert, daß das mein Haus ist.«
»Ich komme nicht in die Villa zurück, wenn es das ist, was dich herführt.«
»Das ist eine Sache zwischen dir und Urs.«
Simone wartete.
»Wie geht es Koni?«
Simone hob die Schultern. »Heute nicht sehr gut.«
»Und das Wundermittel?«
»Kein Resultat«, sagte sie. »Noch«, fügte sie rasch hinzu.
Simone hatte Thomas Koch noch nie so erlebt. Seine Selbstsicherheit war weg. Er stand verlegen in ihrem kleinen schlichten Zimmer, wußte nicht, wohin mit seinen Händen, und schien sich ernsthaft Sorgen zu machen.
»Setz dich doch.«
»Ich habe nicht viel Zeit.« Er nahm die Fotos vom Tisch und blätterte abwesend darin. Simone erschrak. Aber Thomas schien sich über deren Herkunft keine Gedanken zu machen.
»So viele Erinnerungen«, murmelte er nachdenklich.
»Für ihn werden es jeden Tag weniger.« Simone zeigte auf einen der Buben unter dem Sonnensegel am Strand. Quadratischer Schädel, eng beisammenliegende Augen.
»Nicht wahr, das bist doch du?«
»Das siehst du doch.«
»Koni kann euch beide nicht mehr unterscheiden. Manchmal nennt er dich Koni, manchmal sich Tomi, und manchmal nennt er euch Tomikoni und Konitomi.«
»Eine schreckliche Krankheit.« Thomas blätterte weiter in den Fotos. »Wie hat es angefangen?«
»Wie bei allen: Kleine Vergeßlichkeiten, unbedeutende Zerstreutheiten, Dinge gehen verloren, Namen werden vergessen, man tut sich schwer mit Speisekarten, man verliert die Orientierung, dann erkennt man gute Bekannte nicht mehr, vergißt die Namen von Gegenständen, weiß nicht mehr, wofür sie benützt werden, kann sich nichts mehr merken und erinnert sich nur noch an Dinge, die weit zurückliegen.«
»Wie war das mit den Speisekarten?«
»Leute, die früher nie länger als eine Minute eine Speisekarte studiert haben, sitzen da und blättern und können sich nicht entscheiden.«
Thomas nickte. Wie wenn er wüßte, wovon sie sprach.
»Möchtest du ihn sehen?«
»Nein«, sagte er schnell. »Nein, vielleicht ein andermal. Du mußt das verstehen.«
Simone verstand. Thomas Koch machte sich aufrichtige Sorgen. Aber um sich, nicht um Konrad Lang.
Konitomi könnte schon schlafen. Er war müde. Aber er wollte nicht. Wenn er einschlief, kamen sie und stachen ihn.
Er durfte auch nicht die Arme hinter dem Kopf verschränken, wenn er auf dem Rücken lag. Dann stachen sie ihn in die Achselhöhlen. Mit langen Nadeln.
Tomikoni wußte nicht, was besser war: Wenn er kein Licht machte, würden sie ihn nicht sehen. Aber wenn er Licht machte, würde er sie rechtzeitig kommen sehen.
Wenn er jedoch einschlief, würde er es nicht merken, wenn sie Licht machten. Dann würde er zu spät merken, daß sie da sind.
Wenn er sich versteckte, würden sie vielleicht wieder gehen.
Konitomi schlug leise die Decke zurück und zog die Beine an. Das war nicht so einfach. Am linken Bein hatten sie ihm etwas Schweres befestigt, damit er nicht weglaufen konnte.
Jetzt die Füße vom Bett
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