Smaragdjungfer
verantwortlich ist.«
»Oh.« Kalle blickte Paula besorgt an. »Schon mal daran gedacht, den Beruf zu wechseln?«
»Nein, und damit fange ich auch gar nicht erst an. Ich liebe meinen Beruf nämlich.«
Paulas Tonfall signalisierte, dass jede Diskussion über dieses Thema zwecklos war, und Kalle verfolgte es daher nicht weiter. Die Mahlzeit verlief weitgehend schweigend. Selbst Kastors Kompliment, dass das Gericht wirklich lecker schmecke, quittierte Paula lediglich mit einem finsteren Stirnrunzeln.
»Ihre Nichte gibt sich die größte Mühe, möglichst unleidlich zu sein«, meinte Kastor, nachdem Paula ihn und Kalle aus der Küche geworfen hatte, um in Ruhe abzuwaschen. Das Hilfsangebot der beiden Männer hatte sie kategorisch – und gewohnt bissig – abgelehnt und die Tür hinter sich zugeknallt. »Ist sie mit dem falschen Fuß zuerst geboren worden, oder warum hasst sie die ganze Welt?«
Kalle deponierte die Teekanne auf dem Wohnzimmertisch. Er bot Kastor Platz an, schenkte zwei Tassen Tee ein und setzte sich in einen Sessel ihm gegenüber.
»Um Paula zu verstehen, muss man ein paar Dinge wissen.«
»Lassen Sie mich raten: Sie hatte eine schwere Kindheit.«
»Sparen sie sich Ihren Spott, junger Mann. Die hatte sie tatsächlich. Ob Sie es glauben oder nicht, Paula ist im Grunde ihrer Seele ein Sensibelchen.«
Kastor verschluckte sich an seinem Tee, spuckte unfreiwillig die Hälfte in die Tasse zurück und hustete heftig. Kalle funkelte ihn verärgert an. Kastor stellte die Tasse auf den Tisch zurück und wischte sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab.
»Wissen Sie, Herr Lüders, jeder Kriminelle führt heutzutage eine schwere Kindheit ins Feld, als mildernden Umstand für die Verbrechen, die er begangen hat. Als wären die prügelnden, saufenden, kiffenden Eltern oder der missbrauchende Onkel, Lehrer, Freund der Familie und so weiter schuld an den Taten, die er selbst begangen hat. Die Anwälte greifen das auf und versuchen den Gerichten weiszumachen, dass der arme Verbrecher ja gar keine andere Wahl gehabt hätte, als kriminell zu werden. Aber wir wissen wohl beide, dass das nicht stimmt. Man hat immer die Wahl. Und egal wie schlimm einem das Leben oder was und wer auch immer mitgespielt hat, uns bleibt immer die freie Entscheidung. Es ist unsere Verantwortung, was wir aus unserem Leben machen. Und auch, ob wir – wie Frau Rauwolf – uns entscheiden, die ganze Welt als Feind zu betrachten.«
»Nicht die ganze Welt. Nur achtundneunzig Prozent. Und im Prinzip haben Sie vollkommen recht. Sie lassen dabei nur zwei Dinge außer Acht. Erstens: Paula ist keine Verbrecherin geworden. Sie hat sich im Gegenteil für den richtigen Weg entschieden. Zweitens: Die Seele jedes Menschen hat eine Grenze dessen, was sie ertragen kann. Wird diese Grenze immer wieder überschritten, verändert das den Menschen gravierend. Im schlimmsten Fall für immer.«
Kastor trank einen weiteren Schluck Tee, diesmal unfallfrei. »Und Sie meinen, das wäre bei Paula der Fall.«
Kalle nickte. »Aber Sie verurteilen sie lieber für die Kratzbürste, die aus ihr geworden ist.«
»Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Falls Sie mir also meine Skepsis hinsichtlich Paulas angeblicher Sanftmut verzeihen können, würde ich die Geschichte gern hören.«
Kalle grinste flüchtig und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will Sie nicht mit der traurigen Familiengeschichte langweilen. Obwohl die ein gravierender Teil der Ursache des Problems ist. Meine Schwester Lisa – Paulas Mutter – war ein verwöhntes Balg. Sie hat immer bekommen, was sie wollte. Wir sind als Halbwaisen aufgewachsen. Unsere Mutter ist früh gestorben, und weil Lisa ihr Ebenbild war, hat unser Vater ihr Zucker in den Arsch geblasen. Eines Tages lernte Lisa Bernd Rauwolf kennen und wollte ihn unbedingt haben. Obwohl sie beide noch ziemlich jung waren.«
»Dazu gehören immer noch zwei.«
Kalle schnitt eine Grimasse. »Sie kannten Lisa nicht. Bernd war zurückhaltend und sah – völlig zu recht – die Probleme einer so frühen Bindung. Aber Lisa akzeptierte kein Nein. Sie wollte um jeden Preis eine Familie mit Bernd und griff zu einem ziemlich miesen Trick.«
»Lassen Sie mich raten. Sie wurde schwanger.«
Kalle nickte. »Vor dreiunddreißig Jahren war man, was uneheliche Kinder betrifft, noch nicht ganz so liberal wie heute. Trotzdem wollte Bernd sich von ihr trennen, weil sie ihn derart reingelegt hatte. Aber dann wurde Paula geboren, und er war
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