Smaragdjungfer
vom ersten Augenblick an vernarrt in seine Tochter. Damals erhielt in der Regel die Mutter das alleinige Sorgerecht für ein uneheliches Kind, ein Vater musste vor Gericht um sein Umgangsrecht kämpfen, wenn die Mutter sich querstellte. Da Lisa Bernd die Pistole auf die Brust setzte, haben die beiden also geheiratet. Sie hätte ihm sonst eiskalt den Umgang mit Paula verboten.«
»Ihre Schwester muss ja eine Seele von Mensch sein.«
Kalle machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Manipulierendes Miststück trifft es sehr viel besser. Ich weiß, ich sollte das nicht über meine eigene Schwester sagen, aber das ist nun mal die Wahrheit.« Er zuckte mit den Schultern. »Außerdem habe ich so oft unter ihren Intrigen leiden müssen, dass sie sich meine brüderliche Zuneigung vollkommen verscherzt hat. Genau genommen hatte sie es sich mit jedem verscherzt.«
Das erinnerte Kastor frappierend an Paula.
Kalle trank seinen Tee auf einen Zug aus. »Lisa hat zwar bekommen, was sie wollte, aber nicht so, wie sie sich das gewünscht hatte. In Bernds Gefühlsleben spielte sie nämlich nur die vierte Geige hinter Paula, Paula und Paula. Was ich ihm absolut nicht verdenken kann. Leider gehörte Lisa zu den Leuten, die alle anderen für ihre Probleme und Misserfolge verantwortlich machen, nur niemals sich selbst. Statt sich selbst die Schuld dafür zu geben, dass sie Bernds Liebe verspielt hatte, beschuldigte sie Paula, ihr seine Liebe absichtlich zu stehlen, um sich selbst in den Mittelpunkt zu drängen.«
»Das klingt nach einer klassischen Übertragung.«
Kalle zuckte mit den Schultern. »Lisa hat andere Leute immer durch die Brille ihrer eigenen Handlungen und Einstellungen beurteilt. Unnötig zu erwähnen, dass sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Bernd einen Streit vom Zaun gebrochen hat, weil er Paula vergötterte und sich nur um sie kümmerte statt um seine Frau.«
Auch das mit dem Streit anzetteln hatte die Tochter wohl von der Mutter gelernt.
»Damit hat sie Bernd letztlich in die Flucht getrieben. Er ist Bauingenieur und hat sich auf Brückenbau und -sanierung spezialisiert. Das bot ihm unzählige Möglichkeiten, Wochen und manchmal Monate seinem Zuhause fernzubleiben. Was er immer häufiger tat, je älter Paula wurde. Woran Lisa natürlich auch wieder Paula die Schuld gab.«
Kastor runzelte die Stirn. »Mir entgeht der Zusammenhang.«
»Abgesehen davon, dass Lisa und Bernd sich ab einem gewissen Zeitpunkt über nahezu alles gestritten haben, war ihre unterschiedliche Auffassung von Erziehung prozentual ihre größte Baustelle. Bernd hat eine gesunde Einstellung dazu, dass Kinder sich hin und wieder austoben wollen und gegen die Eltern rebellieren. Er sah Paulas natürlichen Bewegungsdrang und dass sie ihre Grenzen austestete, entsprechend locker. Was keineswegs heißt, dass er ihr alles durchgehen ließ. Lisa verlangte Perfektion – von jedem außer sich selbst. Mal abgesehen davon, dass sie sich als die Perfektion in Menschengestalt sah. Paula hatte das Idealbild eines Kindes zu sein – schließlich konnte es ja nicht angehen, dass die Tochter der perfekten Lisa Lüders nicht ebenso perfekt ist. Deshalb passte ihr natürlich auch Paulas Umgang nicht.« Auf Kastors fragenden Blick fügte er hinzu: »Sie ist mit einer Roma-Familie sehr gut befreundet. Mehr als gut. Ich glaube, die haben sie adoptiert. Zumindest emotional. Paula spricht sogar ihre Sprache. Aber Lisa hat ihr den Umgang mit Ileana komplett verboten.«
»Wie ich Paula einschätze, hat sie sich wohl kaum daran gehalten.«
Kalle grinste. »Sie stand damals auf dem Standpunkt, dass Verbote einzig und allein dazu da sind, ignoriert zu werden. Was nicht immer zu ihrem Besten war. Ileana und ihre Familie sind aber schwer in Ordnung. Deshalb habe ich dem Ganzen sozusagen Vorschub geleistet und ihr, wenn sie hier war, erlaubt, Ileana zu besuchen oder sie hierher einzuladen.« Kalle seufzte. »Paula war wirklich ein gutes Kind und alles andere als schlecht in der Schule. Aber sie war nun mal nicht im Entferntesten so, wie Lisa sie buchstäblich mit Gewalt haben wollte.«
»Nämlich?« Kastor beugte sich gespannt vor.
»Lieb, nett, brav, angepasst, pflegeleicht, ein Genie in der Schule, im Sport und beim Klavierunterricht, zu dem Lisa sie zwang, und aufs Wort gehorchend.«
Kastor brach in herzliches Lachen aus. Paula Rauwolf war das genaue Gegenteil dieser Beschreibung.
Kalle stimmte in das Lachen ein. »Ja, das ist ein
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