Smaragdjungfer
trauriger Witz, denn Paula ist die Leidtragende. Jedenfalls beschuldigte Lisa Paula, ihre Renitenz wäre der Grund dafür, dass sie sich mit Bernd dauernd streiten ›musste‹. Lisa hatte von Kindererziehung nicht die geringste Ahnung. Allein schon deshalb hätte sie eigentlich niemals ein Kind haben dürfen.« Er schüttelte den Kopf.
Kastor trank seinen Tee und wartete geduldig, dass Kalle fortfuhr. Der tat zwei Kluntjes in die Tasse, schenkte sich Tee nach und goss das »Wölkchen« Milch hinein.
»Ich muss zugeben, dass mich auch eine gewisse Mitschuld trifft. Ich hätte früher eingreifen sollen. Ich kann zu meiner Entschuldigung nur vorbringen, dass mir das ganze Ausmaß der Katastrophe erst bewusst wurde, als Bernd und Lisa endlich erlaubten, dass Paula bei mir wohnt, wenn die beiden mal wieder längere Zeit abwesend waren. Aber da war es schon zu spät. Lisa hat versucht, Paula zu ihrem Traumkind zu modellieren, indem sie ihr ständig Angst einjagte.«
Kastor zog die Augenbrauen hoch. Bis jetzt hatte er nicht das geringste Anzeichen dafür bemerkt, dass Paula Rauwolf vor irgendetwas oder irgendwem Angst hätte.
»Sie hat Paula ständig damit gedroht, sie ins Waisenhaus abzuschieben und gegen ein anderes Kind auszutauschen, wenn sie nicht endlich so wird, wie Lisa das haben wollte.«
»Wie bitte?«
Kalle nickte nachdrücklich. »Und ich Idiot habe das viel zu spät bemerkt. Danach habe ich mir Lisa zur Brust genommen. Mit dem Erfolg, dass sie Paula von da an nicht mehr mit dem Waisenhaus gedroht hat, sondern mit dem Heim für schwer erziehbare Kinder.«
»Oh Mann.«
»Sie sagen es. Paula war nie schwer erziehbar. Sie war ein lebhafter Wildfang, aber aufgeweckt und intelligent. Die Schwierigkeiten, die Lisa mit ihr hatte, hat sie fast alle selbst verschuldet. Sie hat nicht die geringste Rücksicht auf Paulas Fähigkeiten und Begabungen genommen. Paula liebt beispielsweise Jazz und ist eine richtig gute Saxofonspielerin.«
Das war Kastor völlig neu. Aber es erklärte, warum Paula die Unstimmigkeiten in Bezug auf die Musik bei Jasmin sofort aufgefallen waren.
»Lisa hat sie zu Klavierstunden gezwungen, was ihr überhaupt nicht liegt. Platten und CDs mit ›Hottentottenmusik‹ hat sie ihr nicht nur weggenommen, sondern sie sogar zerbrochen und weggeworfen, um Paula zu ›guter‹ Musik – also Klassik – zu ›erziehen‹. Sie hat sie als faul beschimpft und bestraft, wenn sie keine Einsen mit nach Hause brachte, und ihr bei der Gelegenheit vorgebetet, um wie viel besser doch andere Kinder sind, wie sehr sie sich wünschte, ein anderes Kind zu haben und wie entsetzlich sie mit Paula ›gestraft‹ war. Das gipfelte jedes Mal in dem Vorwurf, dass sie Bernd nur wegen Paula hatte heiraten ›müssen‹ – man beachte die völlige Verdrehung der Tatsachen – und dass sie wünschte, Paula wäre nie geboren.«
»Mein Gott! Das ist ja Psychoterror.«
»Amen. Und ehe ich mich versah, war aus einem wirklich liebenswerten, sanftmütigen und sensiblen Kind ein Rabauke geworden, der seine Angst mit Wut überspielt und sich die Menschen mit Aggression und Kratzbürstigkeit vom Leib hält aus Angst davor, verletzt zu werden, wenn sie jemanden an sich ranlässt.« Kalle schüttelte reumütig den Kopf. »Also habe ich zugesehen, dass sie möglichst viel bei mir ist, und mein Bestes getan, um die Wunden zu heilen, die Lisa ihr geschlagen hatte. Das hat auch einigermaßen funktioniert. Aber dann war Paula achtzehn, zog von Zuhause aus und begann ihre Ausbildung bei der Polizei.«
»Wovon die Mutter nicht begeistert war.«
Kalle winkte ab. »Davon mal ganz abgesehen. Bernd sah seine Pflichten als Vater und Ehemann nun endlich als erfüllt an, setzte sich ins Ausland ab und reichte die Scheidung ein. Hätte er schon viel früher tun sollen, wenn Sie mich fragen. Unnötig zu erwähnen, dass Lisa auch daran Paula die Schuld gab. Als alle ihre Versuche scheiterten, ihn zur Rückkehr zu zwingen, drohte sie mit Selbstmord. Bernd ließ sich aber nicht mehr erpressen, und Lisa schritt zur Tat. Sie hat sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umgebracht, die sie aus dem Krankenhaus geklaut hatte.« Kalle nahm einen großen Schluck Tee. »Das hätte Paula wahrscheinlich noch verkraftet. Aber Lisa hinterließ ihr einen Abschiedsbrief. Darin gab sie Paula die Schuld an allem. Dass ihr Leben verpfuscht war, dass Bernd sie zu wenig geliebt und sie am Ende verlassen hatte. Und das Perfideste war der letzte Satz des
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