SMS für dich
aufgehalten
hatte. Niemand weiß, ob Ben wegen des hohen Alkoholpegels in seinem Blut übermütig wurde und sich womöglich aus Leichtsinn
auf die Betonbalustrade gesetzt hat. Oder ob er diese Gelegenheit nach dem fürchterlichen Streit mit Clara genutzt hatte,
seinem Leben ein Ende zu setzen.
Carsten hielt diesen schrecklichen Sturz aus dem vierten Stock nämlich nicht für einen Unfall.
|42| In den ersten Tagen nach Bens Tod stritt Clara jede Vermutung, es habe sich um Suizid handeln können, kategorisch ab. Nicht
einmal in den Nächten, in denen sie sich Szenen mit Ben in Erinnerung rief, fügten sich die Puzzleteile zusammen.
Erst nach den unzähligen zermürbenden Gesprächen mit Frau Ferdinand, ihrer Psychologin, traute sich Clara allmählich in die
Welt von Ben hinein. Nach und nach begann sie zu verstehen, dass Ben womöglich an einer Persönlichkeitsstörung litt, die durchaus
jahrelang unterdrückt oder verheimlicht worden sein könne. Aber auch wenn Clara mit jeder Sitzung mehr und mehr über die pathologischen
Zusammenhänge lernte und versuchte, diese wie eine Schablone auf Bens Leben zu legen, stand am Ende doch nur immer wieder
die nüchterne Erkenntnis, dass sein viel zu früher Tod absolut nichts Tröstliches hatte.
Ihr Ben, ein junger Mensch mit Träumen und Sehnsüchten, mit Talenten und Schwächen, war ohne irgendeinen Sinn viel zu früh
gestorben. Er hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Alles, was Clara, seiner Familie und seinen Freunden noch blieb, waren
Erinnerungen, Fotos und seine Lieder.
Das erste Mal seit langem traut sich Clara jetzt wieder an ihren Sekretär, um die gebrannte CD mit dem Song zu holen, den
Ben ihr damals geschenkt hat. Mit zittrigen Händen greift sie nach der Hülle, die sie noch in der Geburtstagsnacht mit Kreidestiften
bemalt hat. Ein Mond in silbrig schimmernden Tönen, der hell ins dunkle Universum strahlt.
Als sie jedoch die Hülle öffnet, erschrickt sie plötzlich |43| heftig. Auf der Rückseite des Booklets stehen ein paar Zeilen, die eine sehr vertraute Handschrift erkennen lassen:
Für Lilime, meine kleine große Künstlerin! Ben
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Sven
Sven liegt auf seinem Sofa, die Hände hinterm Kopf verschränkt, und starrt an die Decke. Es ist Samstagabend, im Fernsehen
läuft irgendeine Castingshow, die ihn eigentlich nicht interessiert.
Er wartet auf eine weitere dieser rätselhaften SMS. Diese kleinen Nachrichten beschäftigen ihn inzwischen mehr, als er zugeben würde. Immer wieder grübelt er darüber nach, von
wem sie wohl stammen könnten und ob er in Wahrheit nicht doch der richtige Adressat ist. Vielleicht will ihn ja jemand aus
seinem Bekanntenkreis hochnehmen. Vielleicht ein ehemaliger Kollege oder jemand aus seiner Tai-Chi-Gruppe, die er schon seit
Monaten nicht mehr aufgesucht hat.
Komischerweise hat sich der ominöse Absender gestern Abend mit den Worten
Danke für deine Nachricht
gemeldet. Womöglich gelangen die SMS doch an ihren richtigen Empfänger, aber aufgrund einer technisch bedingten Fehlleitung
sozusagen in Kopie auch an ihn.
Sven beschließt, gleich Montagmorgen vom Büro aus zu recherchieren, ob so etwas theoretisch möglich ist und vor allem, ob
es nicht doch irgendeine Möglichkeit gibt, beim Mobilfunkanbieter den Inhaber der Absendernummer herauszubekommen, obwohl
dieser offensichtlich anonym bleiben will und auch in keinem Verzeichnis auftaucht.
|44| Sven könnte natürlich auch einfach die Nummer anrufen und höflich darum bitten, das Versenden der SMS an ihn zu unterlassen.
Doch irgendwie fühlt er sich nicht wohl dabei. Vielleicht ist er auch einfach bloß neugierig.
Eigentlich hält Sven sich ja für einen diskreten Menschen, der sich nur in Dinge einmischt, die ihn etwas angehen. Anders
verhält es sich natürlich mit Recherchen, die er aus beruflichen Gründen machen muss. Womöglich steckt in jedem Menschen eine
Gier nach geheimen Informationen, denkt Sven und schenkt sich Wein nach. Und Journalist ist auch nicht gleich Journalist.
Unterm Strich ist er stolz drauf, bei einem renommierten Verlag für ein international bekanntes Nachrichtenmagazin arbeiten
zu können. In der vergangenen Woche lief es bei ihm auch schon wieder um einiges besser als die meiste Zeit zuvor. Sogar Breiding
lobte, ganz entgegen seiner überheblichen Art, sein Interview mit dem neuen Sonderberater für Sport und Entwicklung bei den
Vereinten Nationen.
Nach ein paar
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