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Snack Daddys Abenteuerliche Reise

Snack Daddys Abenteuerliche Reise

Titel: Snack Daddys Abenteuerliche Reise
Autoren: Gary Shteyngart
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alles auf Video aufgenommen hat.
    Am fraglichen Abend schipperte Herr Schmid zufällig auf einem Ausflugsdampfer an der St. Petersburger Palastbrücke vorbei, genoss die Designerdroge MDM und die blecherne House-Musik, die an Bord aus den Lautsprechern schepperte, und filmte eine russische Möwe, die einen englischen Teenager attackierte, einen dünnen Hering mit abstehenden Ohren, und seine liebliche blasse Frau Mama.
    »So eine böse Möwe habe ich noch nie gesehen«, erzählte Herr Schmid den Polizeikommissaren und mir am Tag darauf und strahlte uns aus seinen fusseligen Stahlwollhosen und seinem PHUCK-STUTTGART-T -Shirt an, wobei seine kastenförmige Selima-Optique-Brille einen Schatten von Intelligenz um seine toten jungen Augen legte. »Sie hat einfach immer weiter auf dem armen Kind herumgehackt«, beschwerte er sich. »In Deutschland sind die Vögel viel netter.«
    Schmids Videoband zeigt uns, wie die schneeweiße Möwe im Anflug auf die englische Familie mit dem blutigen Schnabel ausholt, wie die Engländer die Möwe um Gnade anflehen, wie die Schiffsbesatzung mit den Fingern auf die Ausländer zeigt und lacht … Dann sieht man die massiven steinernen Pfeiler der Palastbrücke und ihre gusseisernen Straßenlaternen. (Einmal, in den Achtzigerjahren, der schönen Gorbatschow-Perestroika-Zeit, sind Papa und ich auf der Palastbrücke angelngegangen. Wir fingen einen Barsch, der Papa wie aus dem Gesicht geschnitten war. In fünf Jahren, wenn meine Augen vom Leben in Russland glasig geworden sind, werde auch ich ihm ähneln.)
    Dann dreht Schmid sich einmal um die eigene Achse, für einen Rundblick auf St. Petersburg an einem warmen Sommerabend. Der Himmel leuchtet in einem künstlichen Blau, die dicken Mauern der Peter-und-Pauls-Festung stehen von goldigem Flutlicht übergossen, der Winterpalast liegt an seinem Ufer vertäut wie ein Schiff, das sich sanft im immer währenden Zwielicht wiegt, und die dunkle Masse der Isaakskathedrale wacht über sie alle … Ach! Wie schrieb Mandelstam? »Leninsburg! Ich will noch nicht sterben!«
    Und nun, da die Möwe wieder zum Angriff ansetzt und einen irgendwie slawischen Vogelschrei ausstößt, sehen wir auf der Brücke einen Mercedes ML 320-Offroader, der aussieht wie eine futuristische, abgerundete Version der sowjetischen Milizjeeps, in denen sie Papa früher in die Ausnüchterungszelle gekarrt haben, gefolgt von einer jener grotesken gepanzerten Wolga-Limousinen, die mich immer irgendwie an ein amerikanisches Gürteltier erinnern. Und wenn man ganz genau hinsieht, kann man jetzt beinahe Papas gelben Kürbiskopf erkennen, wie er aus dem Wolga-Fenster schaut, mit einer einzigen grauen Locke auf der Glatze, wie von einem Kind dort hingekritzelt … Oh, mein Papa, mein toter, ermordeter
papotschka
, mein Mentor, mein Hüter, mein Jugendfreund. Weißt du noch, Papa, wie wir immer den antisemitischen Nachbarshund unter einem Getränkekasten gefangen gesetzt und abwechselnd angepinkelt haben? Wenn ich nur glauben könnte, dass du jetzt in einer besseren Welt lebst, jener »anderen Welt«, von der du damals faseltest, wenn du am Küchentisch aufwachtest, die kleinen Ellenbogen in der Heringstunke, aber es gibt bestimmt kein Leben nach dem Tod und keine »andere Welt«, außer New York, und die Amerikaner wollen mir kein Visum geben, Papa. Ich sitze in diesem schrecklichen Land fest, weil du einen Geschäftsmann aus Oklahoma abgemurkst hast, und jetzt habe ich nichts mehr als die Erinnerung an dich, an dein fast heilig schönes Leben, dies ist die Last, die dein einziges Kind zu tragen hat.
    Na gut, zurück zum Video. Da rumpelt der zweite Mercedes-Off-roaderüber die Palastbrücke, der letzte Wagen in Papas Konvoi, und jetzt sieht man zwei Männer auf einem Motorrad am Jeep vorbeiziehen. Ganz klar kann man hinter der unverwechselbaren Fünfzigerjahre-Tolle von Oleg dem Elch die teigige Masse des syphilitischen Zhora erkennen (möge er an seiner Syphilis verrecken wie einst Lenin!) … Das Motorrad saust am Wolga vorbei, und da fliegt die Mine, oder jedenfalls ein dunkler Zylinder, der nur eine Mine sein kann – ehrlich, hat hier schon mal jemand eine Mine
gesehen
? Ich stamme nicht aus der Art Familie, die man zusammen mit den blauäugigen Jungs nach Tschetschenien kämpfen schickt –, da fliegt die Mine auf das Dach des Wolga, noch eine Sekunde, und schon lenkt ein
elektrisch geladener Blitz
die Möwe von den zusammengekauerten Engländern ab, und das Dach des Wolga fliegt
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