Sniper
sich das Verständnis dafür nicht nur im Gehirn festgesetzt hat, sondern auch im sogenannten Muskelgedächtnis der Arme, Hände und Finger.
Beim Schießen auf längere Distanzen berücksichtige ich nur die Höhen, nicht aber die Seitenabweichung. (Ich stelle das Visier also so ein, dass ich der Flugkurve der Patrone Rechnung trage, nicht aber einer möglichen seitlichen Abweichung durch den Wind, die bei größeren Entfernungen teilweise beachtlich sein kann.) Der Wind ändert sich dauernd. Bis ich das Visier auf den Wind eingestellt habe, hat der sich schon wieder gedreht. Die Höhenabweichung ist eine andere Sache – obwohl man in Kampfsituationen natürlich oft nicht die Zeit hat, Feinjustierungen vorzunehmen. Dann heißt es schießen oder erschossen werden.
Herausforderungen
Ich war nicht der beste Scharfschütze in meinem Kurs. Um ehrlich zu sein, habe ich die praktische Prüfung gründlich vermasselt. Und das konnte unter Umständen das Ende meiner gesamten Scharfschützenausbildung bedeuten.
Im Gegensatz zu den Marines arbeiten wir im Feld nicht mit Beobachtern. Der SEAL-Philosophie nach sollte ein zweiter Kamerad nicht nur zuschauen, sondern ebenfalls schießen. In der Ausbildung selbst haben wir allerdings auch mit Beobachtern gearbeitet.
Nach der vermasselten Prüfung ging der Ausbilder mit mir und dem Beobachter alles noch einmal durch und versuchte zu analysieren, woran ich gescheitert war. Mein Zielfernrohr war in Ordnung, meine Berechnungen waren korrekt, mein Gewehr befand sich in einem technisch einwandfreien Zustand …
Plötzlich sah er mich an.
»Kautabak?«, sagte er, eher als Feststellung denn als Frage.
»Oh…«
Natürlich – ich hatte während der Prüfung keinen Kautabak gekaut! Das war die einzige Abweichung von meiner üblichen Routine gewesen … und der Erfolgsfaktor, der mir gefehlt hatte. Ich konnte die Prüfung wiederholen und bestand mit fliegenden Fahnen – und einem Mund voll Kautabak.
Scharfschützen sind ein abergläubisches Volk. Wir sind wie Sportler, die allesamt ihre kleinen Rituale und Bräuche haben. Wenn man ein Baseballspiel genau verfolgt, kann man gut beobachten, dass der Schlagmann immer dieselben Gesten macht, bevor er sich in Position begibt – er bekreuzigt sich, tritt in den Staub, schwingt den Schläger. Scharfschützen sind keinen Deut besser.
In der Ausbildung, und auch danach noch, bewahrte ich meine Waffen stets auf eine bestimmte Weise auf, ich trug dieselbe Kleidung und hatte alles auf die immer gleiche Weise geordnet. Das ist eine Art mentale Vorbereitung und Einstimmung, mit der man versucht, seine Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Dass das Gewehr seinen Dienst tun würde, wusste ich. Und ich wollte sicherstellen, dass ich auch meinen tat.
Um ein SEAL-Scharfschütze zu sein, muss man weit mehr können als nur gut schießen. Im Laufe der Ausbildung brachte man mir vor allem bei, den Einsatzort und seine Umgebung sorgfältig zu studieren. Ich lernte, die Welt mit den Augen eines Scharfschützen zu betrachten.
Wo würde ich mich verschanzen, wenn ich mich selbst erschießen müsste?
Da oben, auf dem Dach. Von dort könnte ich den ganzen Trupp ausschalten.
Wenn ich eine solche geeignete Stelle ausgemacht hatte, nahm ich sie näher unter die Lupe. Meine Augen waren zwar schon zu Beginn des Kurses hervorragend, aber hier ging es weniger um das Sehen als um das Wahrnehmen – zu wissen, welche Arten von Bewegungen ungewöhnlich waren oder Details in der Umgebung zu identifizieren, die eventuell auf einen Hinterhalt hinwiesen.
Eine analytische Beobachtungsgabe will gelernt sein. Ich musste also ständig üben, um in Form zu kommen – und vor allem zu bleiben. Ich ging ins Freie und trainierte, Dinge in der Ferne auszumachen. Permanent war ich darum bemüht, meine Fähigkeiten zu verbessern, auch im Urlaub. Auf einer texanischen Ranch sieht man Tiere, Vögel – man lernt, in die Ferne zu blicken und Bewegungen, Formen und kleine landschaftliche Unterschiede auch auf größere Entfernungen auszumachen.
Eine Zeit lang schien es, als würde alles, was ich tat, meine Fähigkeiten verbessern, selbst Videospiele trugen dazu bei. Ich hatte ein kleines Mah-Jongg-Spiel auf einem tragbaren Gerät, ein Hochzeitsgeschenk von einem Freund. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein besonders angemessenes Präsent für den Anlass war – es war ein tragbares Spiel für eine Person – aber als Hilfsmittel war es sehr wertvoll. Bei Mah-Jongg muss man die
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