Snobs: Roman (German Edition)
Ansinnen sichtlich unbehaglich zumute, doch wie Edith vorausgesehen hatte, konnte sie ihr den Zutritt schlecht verweigern. »Selbstverständlich, Mylady«, sagte sie mit einem fröhlichen Nicken und wählte, sobald Edith vorbeigewischt war, die Privatnummer der Familie.
Charles Broughton war, wie Edith vermutet hatte, tatsächlich in seinem Arbeitszimmer oder, wie Lady Uckfield es gern nannte, in der »kleinen Bibliothek«. Ziemlich lustlos beantwortete er Briefe und tat eher beschäftigt, als es wirklich zu sein. Von der Hausgesellschaft, die seine Mutter für ihn zusammengestellt hatte, sagte seiner verwundeten Seele wie üblich niemand zu. Diana Bohun war für seinen Geschmack zu kalt und sich ihres Ranges allzu bewusst, um für ihn interessant zu sein, und ihr Mann konnte kaum noch als normal gelten. Clarissa befand sich nicht darunter. Wenigstens war es Charles gelungen, seine Mutter davon zu überzeugen, dass sie mit ihren Verkuppelungsversuchen auf dem Holzweg war, aber … wenn nicht Clarissa, wer dann?
Er wusste, dass Edith bei Tommy Wainwright erschienen war. Tommy hatte es ihm am nächsten Tag erzählt, vielleicht, weil er nicht wollte, dass es ihm jemand anderer sagte. Erst war Charles furchtbar wütend gewesen – nicht auf Tommy, sondern auf seine Mutter. An besagtem Abend hatte sie plötzlich von ihm verlangt, sie zum Krankenhaus zu kutschieren, wo sie eine alte Freundin besuchen wollte, was sie als unaufschiebbare Mission hingestellt hatte, doch wie er jetzt sehen konnte, war es nur ein billiger Trick gewesen, um ihn von der Party der Wainwrights fernzuhalten. Doch als er sich etwas beruhigt hatte, fragte er sich zum tausendsten Mal, was wohl durch ihr Treffen erreicht worden wäre. Egal, wie sich seine Freunde über Ediths befremdendes Verhalten äußerten, er begriff durchaus, warum sie ihn verlassen hatte. Er war langweilig. Zu seinem Pech besaß er genügend Intelligenz, um das selbst zu erkennen. Dass er keine Gesellschaft für sie war, nachdem sich ihre Freude über ihren Aufstieg abgenutzt hatte, war ihm nur allzu klar. Wenn er ehrlich war, durchschaute er bei Gesprächen oft nicht so recht, wovon seine Frau eigentlich redete. Wenn sie die Politik der Opposition in Frage stellte oder den Nutzen und Schaden einer Intervention im Nahen Osten abwog … Charles wusste, dass es zu diesen Themen abweichende Ansichten gab, aber er sah nicht ein, warum er eben diese Ansichten haben sollte. Reichte es denn nicht, wenn er die Konservativen wählte und sagte, wie
schrecklich er New Labour fand? Das war alles und sogar mehr, als die meisten seiner Freunde im White’s Club von ihm erwarteten. Nun, für Edith war es eindeutig nicht genug. Jetzt hatte sogar er Verdacht geschöpft, dass sie ihn womöglich zurückhaben oder wenigstens darüber reden wollte, aber hatte sich denn etwas verändert? Würde sie nach ein paar Monaten oder Wochen seiner nicht wieder überdrüssig werden? Wäre es nicht besser für sie und ihn, wenn sie sich ihre Niederlage eingestanden? So jedenfalls hatte er über seine Ehe zu denken begonnen. Was natürlich genau der von Lady Uckfield vorgezeichnete Gedankengang war. Heute wird üblicherweise die Ansicht vertreten, dass jede Einmischung ins Privatleben seiner Kinder unweigerlich zu Enttäuschungen führt, doch das stimmt nicht. Kluge Eltern, die behutsam genug vorgehen, können ihre Ziele erreichen. Und die Marchioness von Uckfield war klüger als die meisten.
Er blickte auf, als die Tür aufging und sich die gravitätische Gestalt der Viscountess Bohun hereinschob. »Charles?«, sagte sie mit einem verzweifelten Augenrollen. »Gott sei Dank bist du da!«
»Warum? Was ist los?«
»Ich bin in einer fürchterlichen Klemme. Peter ist auf einem Spaziergang und wir haben unser Auto nicht dabei. Jedenfalls …« Charles wartete geduldig. »Also …« Diana befeuchtete sich nervös die Lippen. Sie hat wirklich ein beachtliches Schauspieltalent. »Ich habe den Kalender durcheinander gebracht und bin ohne alles gekommen …«
Charles sah sie verwirrt an. Was sie da stammelte, ergab für ihn keinen Sinn und hörte sich an wie aus einer Fremdsprache schlecht übersetzt. »Es tut mir sehr Leid«, sagte er auf Dianas gespieltes Erröten hin, »aber ich bin nicht sicher, ob ich …«
Diana überwand ihren Widerwillen vor einer solchen Taktik. Drastische Situationen erfordern drastische Maßnahmen, und wie ihre Gastgeberin klargestellt hatte, war die Situation drastisch genug.
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