Snobs: Roman (German Edition)
abscheulich behandelt hatte. Er drückte die Tür auf und trat ein.
Die Londoner Wohnung der Uckfields nahm das Erdgeschoss und den ersten Stock eines jener prunkvollen roten Ziegelbauten ein, die Anfang des Jahrhunderts um den vornehmen, wenn auch nicht gerade besonders reizvollen Platz entstanden waren. Die Wohnung war sehr ansprechend, das Mobiliar eine wohlausgewogene Mischung aus Bequemlichkeit und Pracht, die sich Charles’ Mutter bei Sir John Fowler abgeschaut und gleich zu Eigen gemacht hatte. Die Bilder stammten aus der B-Liste der Familiensammlung und waren sorgfältig danach ausgewählt, die Bedeutung alten Adels anklingen zu lassen, ohne die Räume zu erdrücken. Die Tapeten, die Dekorationen, selbst die Tische und Sessel kündeten vom Rang der Familie, aber auf
eine bescheidene Weise. »Hierher kommen wir zu Besuch«, schienen die einzelnen Gegenstände zu verkünden, »aber dies sind wir nicht.« Keines der Familienmitglieder, nicht einmal Caroline, die vor ihrer Ehe vier Jahre lang hier gewohnt hatte, würde die Wohnung je als »Zuhause« bezeichnen. »Zuhause«, das war Broughton. »Ich bin nächste Woche in der Wohnung«; »Ich fahre in die Wohnung«; »Wir könnten uns doch in der Wohnung treffen« – das war alles gut und schön. Doch wenn einer der Broughtons sagte: »Ich muss nach Hause«, so konnte das sogar am Ende einer langen Londoner Abendgesellschaft nur bedeuten, dass der oder die Betreffende noch am selben Abend nach Sussex fuhr. Aristokraten wie sie besitzen vielleicht ein Haus am Chester Square und haben ein Cottage in Derbyshire gemietet, aber man kann davon ausgehen, dass ihr »Zuhause« ein Haus ist, um das ringsherum viel Gras wächst. Und wenn kein solcher Zufluchtsort existiert, dann stellen sie klar, dass es für ihr Wohlergehen unerlässlich ist, dem Smog und Asphalt so oft wie möglich zu entfliehen und zu ihren Freunden aufs Land zu eilen. So vermitteln sie den Eindruck, dass sie ihr Leben zwar auf dem Großstadtpflaster, hinter einem Schreibtisch in der City verbringen mögen, aber im Herzen immer Landbewohner bleiben. Selten findet man einen Aristokraten, der in London glücklicher ist als auf dem Lande – oder es zugibt.
Charles hatte seine eigene Wohnung, ein paar bescheidene Räume im dritten Stock am Eaton Place, aber meistens ging er gar nicht erst hin. Am Cadogan Square hatte er es schöner und bequemer und konnte ohne Extra-Umweg Post für Broughton mitnehmen. Und vielleicht weil in Broughton viele Generationen mit unterschiedlichem Geschmack am Werk gewesen waren, spürte er immer das besondere Gepräge, das seine Mutter dem Londoner Stützpunkt aufgedrückt hatte. Das tatsächliche Londoner Hauptquartier der Familie, Broughton House am St. James’s Square, war bei den Londoner Luftangriffen zerbombt worden, und so blieb den Broughtons im Gegensatz zu den meisten ihrer Verwandten die quälende Entscheidung erspart, ob man vernünftigerweise das Stadthaus nach dem Krieg aufgeben sollte oder nicht. Charles’ Großeltern hatten eine
ziemlich feuchte Wohnung in den Albert Hall Mansions gekauft, die seine Mutter kurzerhand ablehnte; diese Wohnung dagegen hatte sie selbst ausgewählt und eingerichtet, als passenden Rahmen für ihre Wohltätigkeitsarbeit und ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen, die von Zeit zu Zeit ihre Anwesenheit in der Hauptstadt erforderten.
Charles goss sich als Absacker einen Whisky ein, setzte sich und dachte an seine Mutter. Er betrachtete die Skizze, die Pietro Annigoni von der siebenjährigen Lady Harriet Trevane (als solche wurde Lady Uckfield geboren) angefertigt hatte. Die hübsch gerahmte Zeichnung stand auf einem Louis-Seize-Tischchen neben dem Kamin des Salons. Sogar schon bei dem kleinen Mädchen, aus dessen kohlschwarzen Locken ein Haarband herabhing, entdeckte Charles diesen starren, unbeugsamen, katzenartigen Blick. Er konnte den Tatsachen genauso gut ins Auge sehen. Seine Mutter würde Edith nicht mögen. So viel stand schon einmal fest. Wäre Edith seiner Mutter als Frau eines Freundes vorgestellt worden, dann hätte sie sie vielleicht gemocht – falls sie überhaupt Notiz von ihr genommen hätte. Doch als Charles’ Freundin wäre Edith nicht willkommen. Noch weniger würde sie – falls dies je Wirklichkeit würde – Lady Uckfields Unterstützung als deren Nachfolgerin finden, als die Frau, der seine Mutter ihr Haus, ihre Position, die ganze Grafschaft anvertrauen müsste, alles, woran sie so hart und so lange
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