Snobs: Roman (German Edition)
gearbeitet hatte.
Damit will nicht gesagt sein, dass Charles kein Verständnis für seine Mutter hatte. Im Gegenteil, er liebte sie sehr und hatte auch das Gefühl, dass er jeden Grund dazu besaß. Er blickte hinter die Fassade der Perfektion, die sie der Öffentlichkeit präsentierte, und ihm gefiel, was er da fand. Lady Uckfield vermittelte stets gern den Eindruck, dass ihr alles im Leben auf dem Silbertablett serviert worden war. Das traf auf sie nicht mehr zu als auf den Rest der Menschheit, doch sie zog lieber Neid auf sich als Mitleid und hatte deshalb ihr Leben lang ihre Sorgen weggesteckt und stattdessen lieber gelächelt. Das war meist nicht weiter schwer, da sie ihre eigenen Probleme genauso langweilig fand wie die aller anderen, doch Charles hatte Respekt vor dieser Lebenseinstellung und mochte seine Mutter darum
umso mehr. Vielleicht begriff er nicht ganz, dass sie mit ihrer Maxime, stets eisern die Zähne zusammenzubeißen, vor allem den Prinzipien ihres Standes folgte.
In der Oberschicht wird man im Allgemeinen wenig Klagen hören. Man schätzt es nicht, Probleme breitzuwalzen; ein strammer Spaziergang und ein Glas Hochprozentiges sind die Mittel der Wahl, um sich nach einem schweren Schlag fürs Herz oder die Brieftasche wieder hochzurappeln. In der Regenbogenpresse wurde viel über die Kälte der oberen Gesellschaftsschichten geschrieben, doch was ihre Angehörigen von anderen Schichten abhebt, ist nicht mangelndes Gefühl, sondern mangelnder Ausdruck von Gefühlen. Natürlich betrachtet man dies in der Oberschicht keineswegs als Mangel, noch bewundert man öffentliche Gefühlsausbrüche bei anderen. Der Trauer unterer Schichten begegnet man mit echtem Unverständnis – jener Mutter, die ihr Kind verloren hat und schluchzend und von anderen gestützt in die Kirche geführt wird; jener Soldatenwitwe, die fotografiert wird, als sie über »seinem letzten Brief« in einen Weinkrampf ausbricht. Allein beim Wort »Therapeut« läuft ein kalter Schauer des Widerwillens über jeden wahrhaft wohlerzogenen Rücken. Was man dort natürlich nicht zur Kenntnis nimmt, ist die einzige Chance auf vorübergehende Berühmtheit, die solche nationalen und häuslichen Tragödien, die im Krieg Gefallenen, die Opfer eines Amokläufers, die Massenkarambolagen auf der Autobahn den Hinterbliebenen bieten. Denn so können diese gewöhnlichen Sterblichen einmal im Leben ihr allzu menschliches Bedürfnis nach herausragender Bedeutung stillen, nach öffentlicher Anerkennung ihres Leidens. In der Oberschicht begreift man diesen Hunger nach Bedeutung nicht, weil man ihn nicht teilt. Dort wird man bedeutend geboren.
Charles wusste nur über einen der Kämpfe besser Bescheid, die seine Mutter auszufechten hatte: Lady Uckfields Krieg mit seiner Großmutter, der Marchioness, die keine einfache Schwiegermutter gewesen war. Die hoch gewachsene, knochige Herzogstochter mit der langen Nase war überhaupt nicht beeindruckt von der hübschen kleinen Brünetten, die ihr Sohn nach Hause gebracht hatte. Die beiden
wurden nie warm miteinander. Auch nach dem Tod ihres Gatten und weit in die Zeit hinein, als Charles die Dinge bereits bewusst wahrnahm, setzte die Witwe ihr herrisches Benehmen ungebremst fort; bis zu ihrem Tod, über den wenig Tränen vergossen wurden, versuchte sie immer wieder, die der Hauswirtschafterin erteilten Anordnungen umzustoßen, den Gärtnern eigenmächtige Anweisungen zu geben und Lebensmittel abzubestellen, um sie durch »geeignetere Dinge« zu ersetzen.
Dass diese Versuche erfolglos blieben, war das direkte Ergebnis jenes einzigen offenen Streits zwischen den beiden Frauen, an den sich Charles immer mit einem Lächeln erinnerte. Kurz nach ihrer Entthronung als Schlossherrin von Broughton hatte seine Großmutter die Bilder im Salon, die Lady Uckfield hatte umhängen lassen, während eines Londonaufenthalts ihrer Schwiegertochter nach ihrem Geschmack neu verteilt. Als Lady Uckfield bei ihrer Rückkehr entdeckte, dass ihre Pläne hintertrieben worden waren, wurde sie so wütend, dass sie zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte des Hauses »durchdrehte«, wie man heute so sagt. Die beiden kreischten um die Wette, sicher ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der betreffenden Räumlichkeit, zumindest seit den ungezügelteren Tagen des achtzehnten Jahrhunderts. Zum Entzücken der hingerissen lauschenden Dienerschaft beschimpfte Lady Uckfield ihre Schwiegermutter als böses altes Weib, das nicht wusste, was
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