Snobs: Roman (German Edition)
könnte. Was sie in meinen Augen las, hätte sie beruhigen sollen, denn ich war immer der Ansicht, wenn man früh erkennt, was man im Leben wirklich will, hat man die besten Aussichten, der scheinbar unvermeidlichen modernen Krankheit der Midlife-Crisis zu entgehen.
»Nicht unbedingt.« Sie klang ein wenig, als wollte sie sich rechtfertigen. »Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass ich in einer Ehe mit einem armen Mann sehr glücklich wäre.«
»Das kann ich nachvollziehen«, sagte ich.
Nach diesem Mittagessen trafen Edith und ich uns eine ganze Weile nicht mehr. Ich bekam eine Rolle in einer dieser unerträglichen amerikanischen Miniserien und fuhr für einige Monate nach Paris und dann auch noch – kaum zu glauben – nach Warschau. Der Job verschaffte mir das höchst deprimierende Erlebnis, Weihnachten und Silvester in einem ausländischen Hotel zu feiern, wo man Käse zum Frühstück serviert bekommt und das Brot immer alt ist, und als ich im Mai nach London zurückkehrte, hatte ich nicht das Gefühl, in meiner Kunst große Fortschritte gemacht zu haben. Andererseits ging es mir wenigstens finanziell etwas besser als bei meiner Abreise. Bald nach meiner Ankunft erhielt ich eine Karte von Isabel mit der Frage, ob ich mich ihnen wie die letzten Jahre beim zweiten Tag in Ascot anschließen wolle. Sie hatte mir wohl während meiner Abwesenheit vergeben. Ich dachte, ich müsste absagen, weil ich die für mich reservierte
Eintrittskarte im abgesperrten Bereich der königlichen Tribüne nicht beantragt hatte; doch wie sich herausstellte, hatte meine Mutter den Antrag für mich gestellt – mit solchen Gesten zeigte sie mir trotzig ihre Ablehnung meiner Arbeit und des von mir gewählten Lebens. In unserer heutigen Zeit, die noch mehr an Lebensart eingebüßt hat, könnte sie keinen Antrag mehr für eine andere Person stellen, nicht einmal für ihren eigenen Sohn, doch damals war das noch möglich. Sie hatte seit meiner Jugend diese alljährliche Verantwortung übernommen und wollte sie nur ungern wieder abgeben. »Es wird dir Leid tun, wenn du einen solchen Spaß verpasst«, wies sie stets meinen Einwand zurück, dass ich keinerlei Absichten hätte, die Veranstaltung zu besuchen. Dieses Mal sollte sie aber Recht behalten. Ich nahm Isabels Angebot mit dem kleinen Lächeln an, das mir bei der Aussicht auf einen Tag in Ascot immer auf die Lippen kommt.
Wie bei vielen berühmten Traditionen haben Idealbild und Wirklichkeit auch bei Ascot kaum etwas oder gar nichts miteinander zu tun. Die Bezeichnung »königliche Tribüne« weckt Visionen von Prinzen und Herzoginnen, von berühmten Schönheiten und Neureichen, die in haute couture gehüllt über manikürte Rasenflächen schlendern (von der speicheltriefenden Berichterstattung der Boulevardpresse will ich gar nicht reden). Von alledem kann ich nur die Qualität der Rasenflächen bezeugen. Bei der großen Mehrheit der Besucher im Bereich der königlichen Tribüne scheint es sich dagegen um Geschäftsleute mittleren Alters zu handeln, die in Begleitung ihrer stillos, meist in Chiffon gekleideten Gattinnen aus den teureren Vororten Londons herbeieilen. Dieses Auseinanderklaffen von Traum und Wirklichkeit wird erst dadurch bemerkenswert und amüsant, dass die Beteiligten selbst in absichtlicher Selbstverblendung die Illusion unterstützen. Sogar die Mitglieder der vornehmen Gesellschaft oder, besser gesagt, die Mitglieder der oberen Mittelschicht und Oberschicht, die tatsächlich in Ascot erscheinen, geraten in eine rührende Ekstase und kleiden und benehmen sich, als nähmen sie wirklich an dem schicken, exklusiven Kultereignis teil, von dem die Zeitungen schreiben. Ihre Gattinnen tragen genauso stillose, aber maßgeschneiderte Kleider, die
ihnen besser stehen, und segeln umher, um einander zu begrüßen, als schriebe man 1770 und träfe sich in den Ranelagh Gardens. Ein, zwei Tage lang gönnen sich diese arbeitenden Menschen den Luxus, so zu tun, als gehörten sie einer verschwundenen Klasse von Müßiggängern an, als würde diese viel bewunderte Welt, der sie nachtrauern und sich (in der Regel fälschlicherweise) zugehörig fühlen, immer noch in der Nähe von Windsor blühen und gedeihen. Ihre Ambitionen sind so durchsichtig und angreifbar, dass sie – zumindest für mich – einen nicht unerheblichen Charme besitzen. Im Grunde freue ich mich immer, wenn ich einen Tag in Ascot verbringen kann.
David holte mich mit seinem Volvo-Kombi ab; als ich einstieg, traf
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