Snow Crash
um das Rundschreiben zu lesen. Für jüngere Angestellte ist es besser, länger zu lesen, um zu zeigen, daà sie gründlich sind, nicht leichtfertig. Für ältere Angestellte ist es besser, etwas schneller zu sein, um ein gutes Führungspotential zu zeigen. Sie geht auf die Vierzig zu. Sie überfliegt das Rundschreiben, drückt die Bild-Taste in einigermaÃen regelmäÃigen Abständen und blättert ab und zu zurück, um so zu tun, als würde sie einen vorherigen Abschnitt noch einmal lesen. Der Computer wird das alles vermerken. Nochmaliges Lesen wird gern gesehen. Es ist eine Kleinigkeit, aber im Verlauf eines Jahrzehnts oder so fällt es bei den Berichten über Arbeitsgewohnheiten wirklich auf.
Nachdem sie das erledigt hat, stürzt sie sich auf ihre Arbeit. Sie
programmiert Applikationen für die Feds. In alten Zeiten hätte sie Computerprogramme geschrieben und damit ihren Lebensunterhalt verdient. Heutzutage schreibt sie Bruchstücke von Programmen. Diese Programme werden von Marietta und Mariettas Vorgesetzten im Verlauf wochenlanger Mammutsitzungen auf höchster Ebene entwickelt. Wenn sie das Muster ausgearbeitet haben, teilen sie das Problem in immer kleinere Bruchstücke auf, teilen sie Projektleitern zu, die sie noch weiter aufteilen und individuellen Programmierern winzige Portionen der Aufgabe zuweisen. Damit sich die Arbeiten der einzelnen Programmierer nicht überschneiden, muà alles nach einem Vorschriftenkatalog geschehen, der noch umfangreicher und umfassender ist als das Handbuch der Regierung.
Nachdem Y. T.s Mutter das neue Unterkapitel über Toilettenpapier gelesen hat, klickt sie als erstes auf ein Unterverzeichnis des Hauptmenüs, in dem das spezielle Programmierprojekt steht, an dem sie gerade arbeitet. Sie weià nicht, um was für ein Projekt es sich handelt â das ist geheim -, oder wie es heiÃt. Es ist einfach ihr Projekt. Sie arbeitet mit ein paar hundert anderen Programmierern daran, aber wer die sind, weià sie auch nicht genau. Und jeden Tag, wenn sie es aufruft, warten stapelweise Rundschreiben auf sie, die neue Vorschriften und Ãnderungen der Vorschriften enthalten, die sie alle befolgen müssen, wenn sie Programme für ein Projekt schreiben. Verglichen mit diesen Vorschriften ist die Sache mit dem Toilettenpapier so einfach und elegant wie die zehn Gebote.
Daher verbringt sie die Zeit bis gegen elf damit, daà sie die neuen Ãnderungen des Projekts liest, nochmals liest und zu begreifen versucht. Es sind ziemlich viele, weil es Montag morgen ist und Marietta und ihre Vorgesetzten das ganze Wochenende in Klausur auf der Chefetage verbracht, sich um das Projekt gestritten und alles verändert haben.
Dann geht sie noch einmal das ganze Programm durch, das sie bisher für das Projekt geschrieben hat, und macht eine Liste von allem, das umgeschrieben werden muÃ, damit es mit den neuen Vorschriften kompatibel wird. Im Grunde genommen wird sie
ihr gesamtes Material von Grund auf neu schreiben müssen. Zum drittenmal in ebenso vielen Monaten.
Aber es ist immerhin ein Job.
Gegen halb zwölf schaut sie verblüfft auf und sieht ein halbes Dutzend Leute um ihre Workstation herumstehen. Marietta ist dabei. Und ein Disziplinarbeamter. Und einige männliche Feds. Und Leon, der Lügendetektormann.
»Ich hatte erst am Donnerstag einen«, sagt sie.
»Es wird Zeit für einen neuen«, sagt Marietta. »Kommen Sie, bringen wir es hinter uns.«
»Hände dahin, wo ich sie sehen kann«, sagt der Disziplinarbeamte.
38
Y. T.s Mom steht auf und geht los. Sie verläÃt das Büro auf direktem Weg. Keiner der anderen schaut auf. Sollen sie nicht. Mangelndes Feingefühl gegenüber den Bedürfnissen der Mitarbeiter. Das Testopfer fühlt sich angestarrt, wo der Lügendetektor doch normaler Bestandteil des Lebens eines FBI-Beamten ist. Sie kann die Schritte des Disziplinarbeamten hinter sich hören, zwei Schritte hinter ihr, immer ihre Hände im Auge, damit sie nichts damit anstellen kann, beispielsweise etwas einwerfen, das den Test beeinflussen könnte.
Vor der Waschraumtür bleibt sie stehen. Der Disziplinarbeamte geht an ihr vorbei, hält die Tür auf, sie geht hinein, gefolgt von dem Disziplinarbeamten.
Die letzte Kabine der linken Seite ist gröÃer, groà genug für zwei Personen. Y. T.s Mom betritt diese, gefolgt von dem Disziplinarbeamten, der
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