Snow Crash
die Tür zumacht und absperrt. Y. T.s Mom zieht den Schlüpfer hinunter, den Rock hoch, hockt sich über eine Schale und pinkelt. Der Disziplinarbeamte sieht zu, wie jeder Tropfen in die Schale fällt, hebt sie auf und schüttet den Inhalt in ein Reagenzglas, auf dessen Etikett bereits ihr Name und das heutige Datum stehen.
Dann wieder hinaus auf den Flur, wieder gefolgt von dem Disziplinarbeamten. Auf dem Weg zum Lügendetektorraum ist es gestattet, die Fahrstühle zu benutzen, damit man nicht auÃer Atem und verschwitzt dort ankommt.
Früher war es ein ganz normales Büro mit einem Stuhl und einigen Instrumenten auf einem Tisch. Dann bekamen sie das neue, ausgeklügelte Lügendetektorsystem. Und jetzt ist es, als würde man sich einer medizinischen High-Tech-Untersuchung unterziehen. Das Zimmer wurde vollkommen umgebaut, keine Spur mehr von seiner ursprünglichen Funktion, Fenster verhängt, alles glatt und beige und riecht wie in einem Krankenhaus. Nur ein einziger Stuhl steht in der Mitte. Y. T.s Mom setzt sich darauf, legt die Arme auf die Armlehnen und preÃt Fingerspitzen und Handballen in die kleinen, dafür vorgesehenen Vertiefungen. Die Neoprenfaust der Blutdruckmanschette tastet blind um sich, findet ihren Arm und packt ihn. Derweil werden die Lichter im Zimmer gedimmt, die Tür fällt ins SchloÃ, sie ist ganz allein. Die Dornenkrone senkt sich auf ihren Kopf, sie spürt die Stiche der Elektroden in der Kopfhaut und spürt den kalten Luftzug der supraleitfähigen Quanteninterferenzgeräte über die Schulter streichen, die als Radar in ihr Gehirn fungieren. Sie weiÃ, irgendwo auf der anderen Seite der Wand sitzen ein halbes Dutzend Techniker im Kontrollraum und betrachten eine bildschirmfüllende VergröÃerung ihrer Pupillen.
Dann spürt sie einen brennenden Stich im Unterarm und weiÃ, daà man ihr etwas injiziert hat. Was bedeutet, es ist kein normaler Lügendetektortest. Das Brennen breitet sich in ihrem ganzen Körper aus, ihr Herz klopft, die Augen tränen. Sie haben ihr Koffein gespritzt, damit sie aufgedreht und redselig wird.
Soviel zur Arbeit, die sie heute erledigen wollte. Manchmal dauern diese Tests zwölf Stunden.
»Wie heiÃen Sie?« fragt eine Stimme. Es ist eine unnatürliche ruhige und flüssige Stimme. Computergeneriert. Auf diese Weise ist alles, was zu ihr gesagt wird, teilnahmslos, emotional unbefrachtet, sie kann keine Hinweise heraushören, welche Richtung das Verhör nehmen wird.
Das Koffein und alles andere, das sie ihr gespritzt haben, versaut auch ihr Zeitgefühl.
Sie haÃt diese Sachen, aber von Zeit zu Zeit passieren sie jedem einmal, und wenn man fürs FBI arbeitet, unterschreibt man auf der gepunkteten Linie und gibt sein Einverständnis. In gewisser Weise ist es ein Beweis für Stolz und Ehre. Alle, die für das FBI arbeiten, sind mit ganzem Herzen dabei. Denn wenn nicht, würde es unzweifelhaft herauskommen, wenn man auf diesem Stuhl sitzt.
Die Fragen gehen endlos weiter. Ãberwiegend sinnlose Fragen. »Waren Sie jemals in Schottland? Ist WeiÃbrot teurer als Weizenbrot?« Das dient nur dazu, sie einzulullen. Sie werfen das ganze Material der ersten Stunde des Verhörs weg, weil es sowieso im Lärm untergeht.
Sie kann spüren, wie sie sich entspannt. Sie sagen, nach ein paar Lügendetektortests lernt man, sich zu entspannen, weil es dann schneller geht. Der Stuhl hält sie fest, das Koffein verhindert, daà sie müde wird, der Entzug von Sinneseindrücken klärt ihr Denken.
»Wie ist der Spitzname Ihrer Tochter?«
»Y. T.«
»Wie nennen Sie Ihre Tochter?«
»Bei ihrem Spitznamen. Y. T. Sie besteht irgendwie darauf.«
»Hat Y.T. einen Job?«
»Ja. Sie arbeitet als Kurier. Sie arbeitet für RadiKS.«
»Wieviel Geld verdient Y. T. als Kurier?«
»Ich weià nicht. Ein paar Dollar hier und da.«
»Wie häufig kauft sie neue Ausrüstung für ihren Job?«
»Das weià ich nicht. Darum kümmere ich mich eigentlich nicht.«
»Hat Y. T. in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches getan?«
»Das kommt darauf an, was Sie meinen.« Sie weiÃ, sie weicht aus. »Sie tut ständig Dinge, die manche Leute als ungewöhnlich bezeichnen würden.« Das hört sich nicht zu gut an, es klingt wie ein Eingeständnis von Nonkonformismus. »Ich glaube, ich will damit sagen, sie
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