So bitterkalt
ob einer der beiden wohl ihr Freund war.
Tags darauf kaufte er sich einen billigen tragbaren CD-Spieler, um Rami hören zu können, wenn er zur Arbeit in die Tagesstätte ging. Der kürzeste Weg dorthin führte durch einen dichten Tannenwald. Er wanderte auf den Waldpfaden und lauschte ihrer flüsternden Stimme:
Mord ist immer Selbstmord;
ich töte dich und mich
Hass ist auch eine Liebe
Ich weiÃ, da hab ich dich.
Leben kann Tod sein
und stark ist auch schwach
es schreien die Lämmer täglich am Bach.
Andere Texte handelten von Macht, Finsternis, Medizin und Mondschatten. Jan hörte sie den ganzen Sommer unentwegt, bis er alle Songs auswendig kannte und das Gefühl hatte, Rami würde für ihn singen. Warum auch nicht? Es gab sogar einen Song auf der Platte, in dem der Name »Jan« vorkam.
Mitte August kamen mehrere neue Kinder in die Tagesstätte. Eines von ihnen war besonders: ein Junge mit blonden Locken.
Jan stand am Eingang zum »Luchs«, als der Junge ankam. Eigentlich sah er zuerst dessen Mutter: Sie kam ihm irgendwie bekannt vor. War sie berühmt oder eine alte Bekannte? Vielleicht fiel sie ihm einfach nur auf, weil sie älter aussah. Sie war bestimmt zwischen fünfunddreiÃig und vierzig, recht alt, um noch ein Kind in der Tagesstätte zu haben.
Dann fiel Jans Blick auf den Jungen â klein und schmal wie ein Stöckchen, aber mit groÃen blauen Augen. Fünf oder sechs Jahre alt. Er hatte goldblondes Haar, genau wie Jan in dem Alter, und trug eine enge rote Jacke. An der Hand seiner Mutter kam er auf die Tagesstätte zu, doch sie gingen an Jans Gruppe namens »Luchs« vorbei und nach nebenan zur Tür der »Braunbär«-Gruppe.
Was für ein ungleiches Paar, dachte er. Die Mutter war groà und schlank und trug eine hellbraune Lederjacke mit Pelzkragen, während ihr Sohn so klein war, dass er ihr kaum bis zu den Knien zu reichen schien. Er musste mit kurzen, schnellen Trippelschritten laufen, um mit seiner Mutter mithalten zu können.
Die Kleidung des Jungen wirkte für die Herbstkälte zu dünn. Er bräuchte mal eine neue Jacke.
Jan hatte gerade die Tür zum »Luchs« aufgesperrt und war mit einem halben Dutzend Kinder um ihn herum auf dem Weg in die Wärme, blieb aber stehen, als die Mutter und der Junge ankamen. Der Junge hatte den Blick auf den Boden gerichtet, aber die Mutter sah ihn kurz an und schenkte ihm ein unpersönliches Nicken. Er war ein Fremder für sie, ein namenloser Erzieher. Jan erwiderte das Nicken und blieb lange genug in der Tür stehen, um zu sehen, wie der Junge und seine Mutter den Hügel hinaufgingen und die Tür zum »Braunbär« aufzogen.
An der AuÃenseite dieser Tür hing ein aus einer HartÂfaserplatte ausgesägter dunkelbrauner Bär, und an der Tür, die Jan für die Kinder aufhielt, hing ein gelber Luchs. Zwei Fleischfresser aus dem Wald. Von Anfang an, seit er im Sommer in der Tagesstätte begonnen hatte, fand Jan, dass die Namen falsch gewählt waren. Luchse und Braunbären waren doch keine freundlichen Wesen, sondern Raubtiere.
Der Junge und die Mutter waren verschwunden. Jan konnte nicht länger in der Tür stehen bleiben, er musste zu seiner eigenen Kindergruppe hinein. Aber das kurze Zusammentreffen vergaà er nicht.
Die Tagesstätte hatte auf ihren Rechnern Listen mit den Namen aller Kinder der Einrichtung gespeichert, und ehe Jan, begleitet von Alice Ramis Musik, nach Hause ging, schlich er ins Büro, um herauszufinden, wie der neue Junge in der »Braunbär«-Gruppe hieÃ.
Er entdeckte den Namen sofort: William Halevi, der Sohn von Roland und Emma Halevi.
Jan betrachtete die drei Namen lange. Da stand auch eine Anschrift, aber die interessierte ihn jetzt noch nicht. Es genügte ihm zu wissen, dass der kleine William den ganzen Herbst über in der Gruppe nebenan sein würde.
4
»Möchten Sie Kaffee, Jan?«, fragt Marie-Louise.
»Danke, gern.«
»Etwas Milch?«
»Nein danke.«
Marie ist die Leiterin der »Lichtung«. Sie ist zwischen fünfzig und sechzig, hat hellgraues lockiges Haar und tiefe Lachfältchen um die Augen â und sie lächelt auch viel und macht insgesamt den Eindruck, als wünschte sie, alle Menschen, groà wie klein, würden sich in ihrer Umgebung wohlfühlen.
Und Jan fühlt sich tatsächlich wohl. Er weià nicht mehr, wie er
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