So bitterkalt
schon, wie er sie ausleeren könnte, ohne dass der Nachbar es sieht.
Legéns Wohnung ist versifft und unordentlich, aber Jan mag diese besinnlichen Stunden trotzdem. Um mal wieder mit jemandem zu reden, hat er nach der Arbeit bei dem Nachbarn geklingelt. Aber wie sehr kann er Legén eigentlich vertrauen? Was darf er ihm erzählen?
»Ich denke, es wird bald Schnee geben«, sagt er.
»Ja«, erwidert Legén und trinkt seinen Wein. »Jetzt sollte man das Holz hacken, wenn man welches hat. In meiner Kindheit hatten wir einen Holzschuppen, aber da haben wir alles Mögliche untergestellt, bis das Holz keinen Platz mehr hatte. Aber man konnte dort drinnen sitzen und mal einen Moment lang seine Ruhe haben.«
Der Wein macht den Nachbarn gesprächig. Aber irgendwann verstummt er doch. Jan nutzt die Gelegenheit: »Am Sonntag war ich unten im Krankenhauskeller. Da waren Patienten unterwegs.«
»Da unten war immer einiges Kommen und Gehen«, sagt Legén. Er nimmt einen groÃen Schluck Wein und erzählt dann: »Aber ich habe mir deshalb nie Sorgen gemacht. Wir sind in der Wäscherei für uns gewesen, und das dreiÃig Jahre lang. Die Wäsche kam runter, und wir haben sie zurückgeschickt. Da konnte man alles Mögliche finden. Brieftaschen und Tablettendöschen, alles Mögliche.«
»Im Keller gibt es eine Kapelle«, sagt Jan. »Wussten Sie das?«
»Schon, aber wir sind nie hingegangen«, erwidert Legén. »Wenn die hohen Herrschaften nach Hause gegangen waren, dann tanzten da die Mäuse auf dem Tisch.«
Als Jan wieder in seiner Wohnung ist, versucht er ein bisschen zu zeichnen, um Die Prinzessin mit den hundert Händen  fertigzustellen. Das ist das letzte Kinderbuch, bei dem er die Bilder noch nicht ausgearbeitet hat, Ramis viertes Buch.
Er verstärkt die Linien von vier Illustrationen und koloriert drei davon, dann legt er die Farben weg. Statt weiter zu malen, holt er sein altes Tagebuch heraus.
Langsam blättert er es durch und liest, was er als Halbwüchsiger gedacht hat; fast kann er sich sogar erinnern, wie sich sein Leben damals angefühlt hat. Als er das Buch in der Mitte aufschlägt, findet er einen alten Zeitungsausschnitt.
Auch an diesen Ausschnitt erinnert sich Jan. Auf dieses Bild war er sechs Jahre nach den Ereignissen im »Luchs« zufällig auf der Sportseite eines Lokalblatts gestoÃen. Es gehörte zu einem Bericht über ein FuÃballturnier für Junioren, nach dessen Finale die siegreiche Mannschaft fotografiert worden war. Man hatte ein Dutzend Elfjähriger vor der Kamera versammelt, und in der Mitte stand, mit einem Ball unter dem Arm, der Torwart und grinste Jan unter seinem Pony hervor an.
Das war William Halevi, und Jan hatte das Gesicht erkannt, noch ehe er die Bildunterschrift gelesen hatte.
Jetzt betrachtet er erneut lange das Bild. William sieht fröhlich aus, entspannt, die Erlebnisse im Wald scheinen ihn nicht beeinträchtigt zu haben. Als das Bild gemacht wurde, war er elf Jahre alt, spielte FuÃball und schien viele Freunde zu haben. Es würde ihm im Leben gut ergehen.
Natürlich kann man das nicht sicher wissen, aber Jan hofft doch, dass es so sein möge.
Er steht auf.
Hinten auf dem Regal steht der Schutzengel â zumindest einer der beiden, nämlich der Sender. Den Empfänger hat er ja in Sankt Psycho zurückgelassen. Das Stand-by-Lämpchen leuchtet klar und deutlich, denn er hat neue Batterien eingelegt. Ein paarmal schon hatte er erwogen, den Sender einzuschalten, aber er weià natürlich, dass der Abstand zum Empfänger zu groà ist. Dazu müsste er viel näher am Krankenhaus sein.
Jan betrachtet den Schutzengel und denkt nach. Dann steht er auf und holt Rucksack und Jacke. Die dunkle Jacke.
An diesem Abend fährt er nicht mit dem Rad, und er nimmt auch nicht den Bus, sondern geht zu FuÃ. Er wählt denselben Weg zur Klinik, den er auch am Sonntag genommen hat â einen weiten Umweg durch den Wald, über den Bach und dann zur Böschung auf der Rückseite der Klinik, die ein paar Hundert Meter vom Zaun entfernt ist.
Wolken jagen am Himmel über dem eingezäunten Gelände dahin.
Jan ist ganz nah. Im Wald hat sich die typische Novemberdunkelheit ausgebreitet, sodass er sich nicht zwischen den Bäumen verstecken muss, sondern einfach oberhalb des Baches auf die Böschung steigen kann. Er schleicht wie ein
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