So bitterkalt
Luchs.
Der Zaun um Sankt Patricia ist von den Scheinwerfern hell erleuchtet wie eine Theaterbühne, doch weiter hinten im Garten kann er breite Schattenflächen erkennen. In vielen der schmalen Fenster der Fassade brennen blasse Lichter, doch bei den meisten sind die Vorhänge zugezogen. Die Patienten verstecken sich.
Jan fühlt sich beobachtet, jedoch nicht von Augen, sondern vom Krankenhaus selbst.
Die unbewegliche Steinfassade von Sankt Psycho starrt ihn so kalt an, dass es ihn schaudert. Am liebsten würde er sich wieder in den Wald zurückziehen, doch er geht weiter, bis zu einem groÃen Findling, den die letzte Eiszeit am Waldrand zurückgelassen hat. Hier verläuft ein ausgetrampelter Pfad, der beweist, dass seit vielen Jahren Leute hier am Krankenhaus vorbeispazieren und vielleicht auch einmal stehen bleiben, um darüber nachzudenken, welche Untiere dort drinnen lauern.
Habt ihr denn keine Bananen für die Affen dabei?
Das hatte Rami an einem Abend in der Klapse gerufen, als eine Gruppe älterer Männer in Anzügen zu einer Art Studienbesuch dort aufgetaucht war. Vielleicht Politiker. Jedenfalls hatten sie aus jedem Anzug ängstliche Augen angestarrt, und dann waren sie alle den Flur hinuntergeeilt.
Die Reichweite der Schutzengel beträgt dreihundert Meter. Jan hofft, dass er schon nah genug am Krankenhaus ist, denn ein Stückchen vor ihm zeichnen sich bereits die Lichtkegel der Scheinwerfer auf dem Boden ab.
Links hinter dem Krankenhausgelände liegt die Vorschule, verdeckt von Nadelbäumen und dem Zaun. Jan sieht auf die Uhr, es ist Viertel nach neun. Zeit loszulegen. Er setzt den Rucksack im Preiselbeergestrüpp ab und zieht den ReiÃverschluss auf. Dann holt er den Schutzengel Âheraus und schiebt den Schalter von »Stand-by« auf »Senden«.
Jan lehnt sich an den groÃen Stein und denkt nach. Er weià nicht, was er sagen soll, und auch nicht, ob Rami da drüben zuhört. Und er darf nicht ihren Namen sagen, falls der Schutzengel bei der falschen Person gelandet sein sollte.
SchieÃlich hebt er das Mikrofon an den Mund: »Hallo?«, fragt er leise. »Hallo, Eichhörnchen?«
Nichts geschieht.
Er sieht zum Krankenhaus hinüber und zählt die Fensterreihen ab. Vierter Stock, siebtes Fenster von rechts. Wenn er sich nicht verzählt hat, ist es eines der Fenster, in denen ein blasses Deckenlicht brennt. Ist die Glühbirne vielleicht mit einem Gitter geschützt, damit man sie nicht kaputt schlagen kann?
Er holt Atem und versucht es noch einmal: »Wenn du mich hörst«, flüstert er, »dann möchte ich, dass du mir das zeigst.«
Er sieht zum siebten Fenster hinauf und wartet, ob sich eine Gestalt am Fenstergitter zeigt, doch nichts geschieht. Aber dann erlischt plötzlich das Licht in dem Zimmer. Das Fenster ist für ein paar Sekunden vollkommen dunkel, dann wird das Licht wieder angeschaltet.
Jan spürt, wie ihm ein Schauer über den Rücken läuft.
»Warst du das, Eichhörnchen?«, fragt er in den Schutzengel.
Wieder geht das Licht aus. Jetzt ist das Fenster ein paar Sekunden lang dunkel, dann leuchtet das Licht wieder auf.
Jan hält den Schutzengel an den Mund. »Gut«, sagt er. »Einmal Licht ausschalten bedeutet âºjaâ¹, zweimal bedeutet âºneinâ¹.«
Das Licht erlischt erneut. Er hat einen Kontakt hergestellt.
»WeiÃt du, wer ich bin?«
Das Licht wird schnell aus- und angeschaltet.
»Jan Hauger. Ich bin es, der dir die Briefe geschickt hat. Und der mal in der Jugendpsychiatrie gesessen hat. In der Klapse.«
Das Licht brennt weiterhin, aber das war ja auch keine Frage.
»Und du heiÃt Maria Blanker?«
Das Licht wird kurz ausgeschaltet.
»Hast du früher einmal anders geheiÃen?«, fragt Jan.
Wieder ein knappes Lichtsignal: Ja.
»Alice Rami? Hast du so geheiÃen?«
Das Licht erlischt.
Endlich .
Jan lässt den Schutzengel sinken. Endlich spricht er mit Rami. Er hat sie gefunden, und sie haben jetzt Kontakt miteinander.
Was kann er nun sagen? Er hat so viele Fragen, doch keine davon könnte mit Ja oder Nein beantwortet werden.
Die Sekunden ticken, die Trommeln dröhnen. Jan macht sein eigenes Zögern nervös, und so fragt er schlieÃlich hastig: »Rami, können wir uns wieder einmal sehen? Nur du und ich?«
Was für eine absurde Frage angesichts eines meterhohen Zaunes. Doch das Licht brennt
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