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So bitterkalt

So bitterkalt

Titel: So bitterkalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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biologischen Eltern der Kinder, oder sind es Pflegeeltern? Das darf Jan natürlich nicht fragen. Es waren ordentlich gekleidete Frauen oder Männer um die dreißig aufwärts. Manche sahen aus, als wären sie Rentner.
    Er hat mit Marie-Louise im Eingang gestanden und die Kinder eines nach dem anderen willkommen geheißen. Inzwischen sind alle Kinder, die den Tag in der »Lichtung« verbringen werden, angekommen: elf Stück.
    Wenn Kinder in die Tagesstätte gebracht werden, gibt es manchmal Verzweiflung und viele Tränen, das kennt Jan schon seit Jahren. Die Eltern ihrerseits sind manchmal übertrieben gesprächig und fröhlich, um die Unruhe oder die Scham, weil sie ihre Kinder abgeben, zu überspielen. Doch hier in der »Lichtung« sind die Erwachsenen gedämpft. Vielleicht liegt das an der Betonmauer, der Schatten von Sankt Psycho fällt auf alle in der Vorschule.
    Und die Kinder? Die sind zumeist schüchtern. Sie lächeln und flüstern und sehen gespannt zu der neuen Person, die da neben ihrer Erzieherin steht, und sie fragen sich, wer das wohl ist. In all den Jahren in verschiedenen Vorschulen ist Jan fast ausschließlich neugierigen Kindern mit wachen Augen begegnet. Kinder wirken nur dann abgestumpft, wenn sie richtig krank sind. Im Gegensatz zu Erwachsenen können sie nie verbergen, wie es ihnen geht.
    Â»Leider hast du heute unsere ›Mir-geht-es-gut-Stunde‹ verpasst«, erklärt Marie-Louise, nachdem sie Jan alle Räume gezeigt hat.
    Â»Was ist das?«
    Â»Die halten wir Mitarbeiter immer montags für uns ab. Da setzen wir uns ganz einfach für fünfzehn Minuten zusammen und erzählen, wie es uns geht.« Sie lächelt ihn an. »Aber du wirst nächsten Montag Gelegenheit dazu haben.«
    Jan nickt schweigend. Er will nicht darüber nachdenken, wie es ihm geht.
    Â»Okay«, meint Marie-Louise, »magst du jetzt anfangen?«
    Â»Gern.«
    Â»Gut.« Sie lächelt erneut. »Ich dachte, wir könnten ein Lesestündchen abhalten.«
    Jan wird die Ehre zuteil, ein Kinderbuch aus den Kisten im Spielzimmer auszusuchen, und er zieht einfach ein dünnes Buch aus der Mitte des Stapels: »Michel in der Suppenschüssel.«
    Â»Lesezeit!«
    Jan setzt sich auf einen Stuhl an der Wand im Spielzimmer, und die Kinder legen die Dinge weg, mit denen sie gerade beschäftigt waren, und setzen sich auf kleine Hocker in einem schiefen Halbkreis um ihn herum. Sie sind durchaus neugierig auf ihn, doch immer noch sehr abwartend. Er kann sie verstehen.
    Â»Na gut, erinnert ihr euch noch daran, wie ich heiße?«
    Keines antwortet.
    Â»Weiß es jemand noch?«
    Die Kinder starren ihn schweigend an.
    Â»Jan«, flüstert ein Mädchen schließlich, das nur einen oberen Schneidezahn hat.
    Sie sitzt ein wenig dichter an ihm als die anderen. Matilda, das ist doch Matilda, oder? Sie wird ungefähr fünf Jahre alt sein, trägt einen Mittelscheitel und lange strohblonde Zöpfe.
    Â»Ganz genau, ich heiße Jan Hauger.« Er hält das Buch hoch. »Und das hier ist Michel. Michel aus Lönneberga. Kennt ihr den?«
    Ein paar Kinder nicken, er hat jetzt ein wenig Kontakt zu ihnen bekommen.
    Â»Habt ihr schon das Buch gelesen, in dem Michel mit dem Kopf in der Suppenschüssel stecken bleibt?«
    Â»Jaa ...«
    Â»Habt ihr es schon ganz oft gelesen?«
    Â»Jaa!«
    Â»Wollt ihr es dann überhaupt noch mal lesen?«
    Â»Jaa!«, rufen die Kinder im Chor.
    Jan lächelt sie an. Wenn man dem Blick eines Kindes begegnet, dann verschwinden alle Sorgen. Ihre Augen nehmen alles Licht der Welt auf und schicken es wieder hin­aus. Er schlägt das Buch auf und fängt an zu lesen.
    Der Vormittag vergeht. In der Tagesstätte »Lichtung« spielen Routinen eine große Rolle. Marie-Louise scheint so viele Routinen wie möglich zu wollen und die Kinder ebenso. Nach dem Vorlesen sollen alle rausgehen und spielen. Die Kinder ziehen Jacken und Stiefel an und laufen in den Hof hinaus, der von einem meterhohen Zaun umgeben ist. Fast die halbe Gruppe will Fangen spielen, und Jan soll der Fänger sein. Als er sie um die Sandkiste und den Schuppen herumjagt, verlieren sie die letzte Schüchternheit und kreischen vor Furcht und Freude. Der Hof der Vorschule ist nicht groß, aber sehr grün, in diesem warmen Herbst wachsen Gras und Büsche immer noch frisch, und es gibt keinen Asphalt und fast

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