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So bitterkalt

So bitterkalt

Titel: So bitterkalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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keinen Kies auf dem Hof.
    Von hier aus sieht Jan das Klinikgelände aus einem neuen Winkel. Auf der Rückseite von Sankt Patricia gibt es keine Mauer, sondern nur einen fünf Meter hohen Zaun, auf dem oben ein Netz aus Elektrodrähten aufgespannt ist.
    Â»Fang mich! Fang mich!«
    Jan spielt weiter. Er wirft die Arme hoch, wie ein richtiges Monster, und jagt alle Kinder, die gejagt werden wollen. Sie verstecken sich hinter dem Spielhäuschen, und er schleicht herum und tut so, als könnte er sie nicht finden, doch dann schaut er plötzlich um die Ecke und ruft »Bu-huu!« wie ein Troll.
    Das macht Spaß, hier draußen auf dem Hof gefällt es ihm besser als im Spielzimmer, doch als er einmal den Kopf zum Klinikzaun dreht, sieht er plötzlich, dass dort jemand ist und zu ihm herüberstarrt.
    Jan bleibt wie angewurzelt stehen, und sein Lächeln ist verschwunden.
    Hinter dem Zaun von Sankt Patricia steht eine große, magere alte Frau in einem schwarzen Mantel, aus dem unten dünne, weiße Beine herausragen. Sie hat einen Rechen in der einen Hand, und zu ihren Füßen liegt ein Laubhaufen. Die andere Hand krallt sich in die Metallösen des Zauns.
    Die Frau starrt Jan geradewegs an. Ihr Gesicht ist bleich, doch ihr Blick ist fast ebenso dunkel wie ihre Kleidung. Man kann nicht erkennen, ob es ein trauriger oder ein hasserfüllter Blick ist.
    Â»Jan?«
    Er fährt zusammen und dreht den Kopf. Marie-Louise hat ihn aus einem offenen Fenster in der Vorschule gerufen.
    Â»Ja?«
    Â»Gleich muss Leo rübergebracht werden. Magst du mich begleiten, damit du siehst, wie wir das machen?«
    Â»Ja. Natürlich.«
    Jan nickt ihr zu. Marie-Louise schließt das Fenster, und er sieht wieder zum Krankenhaus hinüber. Doch die Frau hinter dem Zaun ist verschwunden. Nur der Laubhaufen liegt noch da.
    Weiter in der Routine. Die Kinder kommen vom Hof herein, ziehen die Stiefel aus und gehen direkt ins Spielzimmer, um sich mit verschiedenen Spielen zu beschäftigen. Es hat Jan schon immer fasziniert, wie diszipliniert kleine Kinder sein können, wenn sie wissen, was sie tun sollen.
    Als alles ruhig ist, sieht Marie-Louise auf die Uhr.
    Â»So, jetzt ist es Zeit für die Übergabe.«
    Sie holt eine Magnetkarte aus einem Schrank in der Küche und geht mit Jan zur Garderobe.
    Â»Leo!«, ruft sie. »Komm jetzt.«
    Neben den Haken, an denen die Kinder ihre Jacken und Mäntel aufhängen, befindet sich eine weiße Tür, die Jan bisher nicht bemerkt hat oder über deren Bestimmung er zumindest nicht nachgedacht hat.
    Marie-Louise geht mit der Magnetkarte voran, die, zusammen mit einem vierstelligen Code, die weiße Tür öffnet: 31 – 07.
    Â»Mein Geburtstag«, erklärt Marie-Louise, »der 31. Juli.«
    Hinter der Tür sieht Jan eine steile Betontreppe. Marie-Louise schaltet das Licht ein, dreht sich herum und streckt lächelnd die Hand aus. »So, Leo, jetzt gehen wir zum Papa!«
    Leo war beim Spielen draußen auf dem Hof nicht dabei gewesen. Er ist knapp fünf Jahre alt, trägt eine kleine blaue Latzhose, hat dünne Beine und ist schmal gebaut. Jetzt ergreift er Marie-Louises Hand und geht mit ihr Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Jan folgt ihnen schweigend auf den Treppenabsatz.
    Â»Du kannst die Tür jetzt zumachen, Jan.«
    Als er das tut, ist das fröhliche Lachen und Rufen aus der Vorschule plötzlich wie abgeschnitten, und es herrscht Grabesstille. Die Wände neben der Treppe scheinen aus demselben Beton zu sein wie die Mauer – alle Geräusche werden hier unten gedämpft.
    Leo geht mit kleinen Schritten neben Marie-Louise die Treppe hinunter. Auch sie spricht nicht, ein spürbarer Ernst hängt in der Luft.
    Nach zwanzig Stufen gelangen sie in den Keller und in einen unterirdischen Gang mit Betonfußboden, auf dem ein dünner blauer Stoffteppich liegt. Auch sonst hat jemand etwas Mühe darauf verwandt, den Gang freund­licher erscheinen zu lassen, denn die Wände sind sonnig gelb angestrichen und mit farbenfrohen Bildern behängt.
    Es sind Aquarellzeichnungen, stellt Jan fest. Er hätte sie nicht malen können, dafür sind sie zu fröhlich. Lachende Ratten, die in einem Bassin baden, Elefanten, die große Pfeifen rauchen, und Walrosse, die Tennis spielen.
    Die Tiere wirken hier fehl am Platz.
    Â»So, Leo«, sagt Marie-Louise plötzlich und bleibt stehen,

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