So bitterkalt
und manchmal können sie auch giftig sein.«
Das Mädchen nickt stumm und hat den Pilz offenbar schon wieder vergessen â so schnell sie kann, rennt sie hinter den anderen her.
Jan sieht ihr nach, bis sie zu der Kindergruppe aufgeschlossen hat.
Er atmet aus, und obwohl er das gar nicht will, muss er an die Kinder aus der Tagesstätte »Luchs« denken. Wie schnell geht doch ein Kind verloren, es genügt schon, dass der Weg zwischen ein paar groÃen Tannen hindurchführt und die Sicht eingeschränkt ist.
Aber heute besteht keine Gefahr. Die Kindergruppe der »Lichtung« bleibt beisammen, Eichen und Birken stehen weniger dicht als ein Tannenwald, und auÃerdem tragen die Kinder ja ihre Westen, die neongelb zwischen den Bäumen leuchten.
Marie-Louise hält die Gruppe zusammen, indem sie mit den Kindern spricht. Sie zeigt ihnen bestimmte Blätter und Büsche und erzählt, wie sie heiÃen. Dann stellt sie jedem Kind eine Frage. Doch nach einer Weile klatscht sie in die Hände. »Jetzt ist freies Spiel! Aber bleibt in Sichtweite!«
Die Kinder verteilen sich schnell. Felix und Teodor jagen einander, Mattias rennt hinter ihnen her, stolpert über eine Wurzel und kugelt über den Boden, kommt aber schnell wieder auf die FüÃe.
Jan läuft zwischen den Bäumen umher und zählt unausgesetzt die gelben Westen, damit keine fehlt. Er ist dabei, er passt auf.
Als er ein Stück weitergeht, hört er Lachen durch den Wald schallen und erkennt zwischen den Bäumen gelbe Reflexe. Dann sieht er, dass Natalie, Josefine, Leo und der kleine Hugo im Kreis stehen und auf den Boden sehen. Josefine und Leo haben Stöcke in den Händen, mit denen sie auf die Erde piken. Als sie Jan entdecken, erstarren sie und grinsen dann verlegen. Josefine sieht Leo an, und die beiden fangen an zu kichern. Mit einem Mal werfen sie die Stöcke weg und rennen mit gellendem Schreien und Lachen ins Unterholz.
Jan geht zu der Stelle, um nachzusehen, womit sie gespielt haben.
Etwas Kleines. Sieht aus wie ein graubraunes Stoffbündel, das auf dem Boden liegt. Aber es ist eine Waldmaus.
Sie liegt mit geöffnetem Maul zwischen den Blättern und ringt sterbend nach Atem. Der seidenweiche Pelz ist blutbefleckt. Jan begreift, dass die vier Kinder beim Spielen das Tier gepikst haben.
Aber das war kein Spiel. Das war ein sadistisches Ritual, um Macht über Leben und Tod zu empfinden.
Jan ist allein, er muss handeln. Vorsichtig schiebt er den weichen Körper mit seinem rechten Schuh vom Weg und sucht einen groÃen, stumpfen Stein. Den packt er mit beiden Händen und zielt.
Du sollst nicht töten , denkt er, wirft den Stein aber trotzdem, und zwar sehr fest. Wie ein Meteor fällt er auf den Körper der Maus.
Geschafft.
Er lässt den Stein im Unterholz liegen und geht zur Kindergruppe zurück. Alle sind da, und er sieht, dass Leo immer noch lächelt und zufrieden aussieht.
Nach fast einer Stunde im Wald macht die Gruppe sich wieder auf den Heimweg, zurück über die Brücke am Bach und dann am Zaun entlang.
Als alle Kinder wieder in der Vorschule sind und ihre Jacken ausgezogen haben, müssen sie Hände waschen, und dann ist Jan an der Reihe, Katinka zum Fahrstuhl zu bringen. Sie fährt allein zu ihrer Mutter hinauf.
Danach ist Märchenstunde. Jan beschlieÃt, aus Pippi Langstrumpf vorzulesen, vor allem jene Stelle, wo Pippi darüber nachdenkt, dass jemand, der richtig groà ist, auch besonders nett sein muss.
Hinterher bittet er Natalie, Josefine, Leo und Hugo, im Spielzimmer zu bleiben und sich vor ihm auf den Boden zu setzen.
»Heute im Wald habe ich euch spielen sehen«, sagt er zu ihnen.
Die Kinder schauen mit einem schüchternen Lächeln zu ihm hoch.
»Und ihr habt etwas auf dem Weg zurückgelassen. Eine kleine Maus.«
Da begreifen sie mit einem Mal, wovon er spricht und was er will. Josefine zeigt auf Leo und sagt: »Leo war das, der ist auf sie draufgetreten!«
»Die war krank!«, wehrt sich Leo. »Die hat einfach so auf der Erde gelegen.«
»Gar nicht, die hat sich noch bewegt! Die ist gekrochen.«
Jan lässt sie sich eine Weile streiten, dann sagt er: »Und jetzt ist die Maus tot. Jetzt kriecht sie nicht mehr.«
Die Kinder verstummen und sehen ihn an.
Bedächtig spricht er weiter: »Was glaubt ihr, wie es der Maus ging, bevor sie gestorben ist?«
Die Kinder antworten nicht.
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